Zum ersten Mal war ich dieses Jahr für die ganze Länge beim Il Cinema Ritrovato in Bologna dabei – „Cinephile’s Heaven“, wie die dritte Hauptsektion des Programmes überschrieben ist. „The Time Machine“ und „The Space Machine“ heissen die beiden anderen Sektionen, dazu gab es wieder einige Special Events, zudem auch Vorträge und ein paar Ausstellungen.
In „The Time Machine“ gab es eine Reihe zum Jahr 1903 und die Fortsetzung von „Cento anni fa“, was dieses Jahr 1923 bedeutete, zudem eine Reihe mit Filmen russischer Diven in Italien, eine Reihe mit Dokumentarfilmen und nicht zuletzt das „Samama Chikli Project“.
Unter „The Space Machine“ liefen eine Retrospektive von Teinosuke Kinugasa, die regelmässige „Cinemalibero“-Reihe, Filme von Elfi Mikesch, Leopold Lindtberg und eine Reihe mit deutschen Komödien aus dem Exil („The Very Last Laugh: German Exile Comedies, 1936-1936“).
Im „Paradiso dei cinefili“ gab es dann eine Menge restaurierter und ausgegraberner Filme („Ritrovati e ristorati“ bzw. „Recovered and Restored“), eine Reihe mit Filmen mit Anna Magnani, die Retro von Rouben Mamoulian, eine Reihe mit Filmen, bei denen Suso Cecchi d’Amicho mitgewirkt hat, „Powell before Pressburger“, eine Reihe mit 16mm-Filmen, sowie eine Reihe für Kinder.
Ein irres Programm mit über vierhundert Vorstellungen auf sechs Leinwänden, verteilt über neun Tage. Viel zu viel, um auch nur annähernd alles gucken zu können, zudem je nach Dauer der Filme auch etwas zu eng getaktet, um es in jedem der Slots rechtzeitig in einen der anderen Säle zu schaffen. Drei der Säle bzw. zwei Kinos und eine Mischung aus Kino und Vorlesungsraum (dort liefen Dokumentarfilme oder eben die Vorträge, von denen ich spontan doch noch einen erwischte) finden sich auf beim Cinema Lumiere, das zur Cineteca gehört, dazu werden drei Säle in der Stadt bespielt, abends kommen das grossen Open Air auf der Piazza Maggiore (Cinema sotto le stelle, läuft über mehrere Wochen bei freiem Eintritt) sowie ein kleineres Open Air beim Cinema Lumiere dazu.
Da die meisten Filme nur ein-, manchmal zwei- oder allerhöchsten dreimal gezeigt werden, muss eine Auswahl getroffen werden – für die kleineren Säle am besten mit Reservation im Voraus. Ich habe praktisch alles im Voraus gebucht, aber mein Programm mehrere Male revidiert, weil bereits ausverkaufte Vorstellungen wieder in den Verkauf gelangten oder mich was anderes als ursprünglich geplant doch mehr interessierte.
Das Programm ist grob so gestaltet, dass es zwei morgendliche Slots gibt, ca. um 9 und 11 Uhr. Dann geht es mit drei nachmittäglichen weiter, ca. 14:30, 16:30 und 18:30, bevor es um 21:30 herum in die letzte Runde geht. Dazu kommen aber immer auch kürzere Vorstellungen, die parallel laufen, und in einem der drei grösseren Säle lief die Abendvorstellung stets schon um 20 oder 20:30 Uhr. Das ist dann auch das Kino, in dem es um 22 oder 22:30 Uhr noch eine weitere Vorstellung zu sehen gab (wobei ja schon die ab 21 Uhr parallel zu den Open-Air-Screenings liefen).
Zum Thema „ausverkauft“ muss angemerkt werden, dass es für jede Vorstellung eine „last minute“-Schlange gab und die Leute, die sich dort anstellten in den allermeisten Fällen auch alle noch in den Saal gekommen sein dürften. Das alles (reservieren, last minute) geht nur noch mit Festivalpass, letztes Jahr konnte ich noch ohne fast die ganzen Retro von Hugo Fregonese besuchen. Das System finde ich etwas mühsam, aber das Publikumsaufkommen wie es scheint so gross wie noch nie war, ist es wohl vertretbar, auch wenn in den grossen Sälen (den Kinos Jolly und Arlecchino) gerne ein paar Dutzend Plätze frei blieben (auch, weil für die Supporter mit teuren Pässen stets Kontingente freigehalten werden, und wohl auch noch welche für diejenigen mit Festivalpass, die mit dem Online-Buchungssystem nicht klarkommen und beim Schalter in der Cineteca ihre Karten lösen).
Da ich seit inzwischen einem Dutzend Jahren fast nicht mehr ins Kino gehe, habe ich es wahnsinnig genossen – und es in den neun Tagen auf 45 Vorstellungen plus einen Vortrag gebracht. Drei bis sechs Vorstellungen pro Tag – meistens vier oder fünf, darunter oft auch kürzere Filme oder Programme mit Kurzfilmen, die nur eine Stunde dauerten. Und klar: ich hab im Lauf der Tage ein wenig ausgedünnt … aber da ich allein unterwegs war habe ich es so sehr ausgekostet, wie ich konnte (und wollte). Und kurzum: es war grossartig und ich bin nächstes Jahr wenn irgendwie möglich bestimmt wieder dabei!
Vollständiges Programm (auch als PDF) sowie den Katalog (als PDF – mit dem Festivalpass kriegt man die Printversion vor Ort, zusammen mit einer Stofftasche, alles mit dem Motiv aus „Quién sabe“ dieses Jahr) gibt es auf der Website:
https://festival.ilcinemaritrovato.it/en/
Die Zitate im folgenden stammen aus dem Programmheft („Heft“ … ca. 20 x 25 cm und fast 450 Seiten).
Los ging es am Freitag (23. Juni), vor dem eigentlichen Festivalbeginn, auf der Piazza mit LA NUIT DE VARENNES (Ettore Scola, FR/IT, 1982) – ein frei erfundenes, äusserst wortreiches Historiendrama um die frz. Revolution mit einem Staraufgebot, nicht zuletzt Marcello Mastroianni als alter Casanova. Scola meinte zum Film: „So what the characters are talking about is relevant to what is going on now: there are intellectuals, reactionaries, progressives and idiots, just like today.“ Ein sehr vergnüglicher Einstieg, wenngleich nicht ohne Längen.
Am Samstag (24. Juni) konnte ich für die offizielle Festivaleröffnung um 12 Uhr noch einen Platz ergattern – es gab nach ein paar Ansprachen einen wilden Mix aus meist sehr kurzen Stummfilmen, ich liess das Handy mitlaufen, aber war bisher zu faul, rauszuschreiben, was da gezeigt wurde. Daniele Furlati begleitete am (leider) digitalen Klavier (leider, weil das Ding anscheinend keinen differenzierten Anschlag und relativ wenig Dynamik erlaubt – auch in leiseren Passagen klang alles wie gehämmert).
Dann ging es weiter zum ersten Film, den ich aus dem so üppigen Programm gewählt hatte, YAM DAABO (Idrissa Ouédraogo, BF, 1986) – wunderbar! Die Geschichte einer Familie, die nicht einfach in die Stadt ziehen will, sondern in eine andere Gegend zieht und einen Neuanfang wagt. Beim Gang in die Stadt, um den Eselwagen zu verkaufen, wird der jüngste Sohn von einem Auto überfahren – doch es muss weitergehen. Nicht nur ein Familiendrama voller wahnsinnig schöner Bilder – Landschaften, Close-Ups von Gesichtern etc. – und mit einer Einführung von Aboubakar Sanogo (von der FEPACI, der Fédération Panafricaine des Cinéastes), die ein flammendes Plädoyer für Ouedrago war.
Es folgte die erste Mamoulian-Vorstellung, THE FLUTE OF KRISHNA (Rouben Mamoulian, US, 1926) sowie APPLAUSE (Rouben Mamoulian, US, 1929). Den ersten Gehversuch Mamoulians hinter der Kamera aus dem Mai 1926 zeigt eine Choreographie von Martha Graham und ein neues Zwei-Farben-Verfahren von Eastman, Stephen Horne begleitete den Film an der Querflöte. ZU sehen sind drei spärlich bekleidete Tänzerinnen, dann taucht eine vierte mit einem Stock auf, die anderen verschwinden, die mit dem Stock wird ohnmächtig – hat Krishna sie überwältigt? Eine Kuriosität, die nicht wirklich auf „Applause“ vorbereitete, eine Mischung aus Backstage-Musical und New York-Film (inkl. on location-Drehs, nicht zuletzt auf der Brooklyn Bridge, für Jazzköpfe natürlich für immer mit Sonny Rollins verbunden). Eine sentimentale Geschichte über – wie man heute sagt – einen toxischen Mann, Produzent, Zuhälter, eine ihm ergebene, ausgelieferte Burlesque-Tänzerin und deren Tochter, die eigentlich von dem Milieu ferngehalten wurde, ihm aber doch nicht entkommen kann. Ein furioses Debut, in dem bereits die irren und oft symbolisch aufgeladenen Schnitte zu bewundern sind, die Mamoulians Filme prägen und oft Gegensätze von hoch und tief (die Garderoben oder der Orchestergraben im Variété vs. die Spitzen von Wolkenkratzern) ins Bild setzen, ebenso wie die manchmal völlig entfesselte Kamera. Dass manchmal über weite Strecken keine Dialoge nötig sind zeigt, wie gut Mamoulian rein in Bildern erzählen kann.
Direkt im Anschluss auch gleich der Einstieg in die Retro von Kinugasa mit DAIBUTSU KAIGEN (Teinosuke Kinugasa, JP, 1952), einem etwas langen und zähen Drama über die Errichtung einer gigantischen Buddha-Statue, angesiedelt in der Nara-Periode (710-784 – Wiki-Eintrag zur echten). Alexander Jacoby und Johan Nordström waren hier zum ersten Mal mit einer exzellenten Einführung zu hören – die mir sicherlich half, den Film etwas besser zu verstehen.
Die Spätvorstellung gab’s dann – wie meistens – nicht auf der Piazza (zum kleinen Open Air habe ich es gar nie geschafft) sondern im Kino, meist im ziemlich leeren Saal (die Vorstellungen beginnen in der Regel um 21:30, das Open Air um 21:45, aber wenn man auf einem Stuhl sitzen will, sollte man deutlich früher vor Ort sein – oder man stellt sich in die Last-Minute-Schlange für Leute mit Festivalpass). A WOMAN OF PARIS (Charles Chaplin, US, 1923) hatte ich mir ausgesucht, den ersten Film, den Chaplin machte, nachdem er 1923 endlich – vier Jahre nachdem er United Artists mitgegründet hatte – einen Film nach seinen eigenen Regeln drehen konnte. Ein Melodram, das tragikomische Züge trägt, oft bezaubernd leicht ist und mit einem irrsinnig guten Timing glänzt. Besonders an der in Bologna zu sehenden Version war, dass sie neuer Musik versehen war: Chaplin hinterliess keine fertige Musik mehr für den Film, der Score von 1977, als der Film neu aufgelegt wurde, kommt mit wenig Material aus, das vermutlich von Eric James aufs Maximum zerdehnt wurde. Dass Eric Rogers bei der Orchestrierung aushalf, ohne Chaplins Musik zu kennen, half vermutlich auch nicht. Vor ein paar Jahren tauchten dann 19 Stunden Heim- und Studioaufnahmen von Chaplin am Klavier auf, die bis 1951 zurück reichen und teils an Mitarbeitende zur Transkription weitergereicht wurden. Timothy Brock bediente sich bei diesen zu weiten Teilen nie aufs Papier gebrachten Aufnahmen und stellte daraus einen wunderbaren Score für „A Woman of Paris“ zusammen, zwischen Salonmusik und leichter Klassik, mit einem prominenten Klavier, dazu Harfe, Celesta, ein paar Streicher, einige Bläser, darunter – passend zu einer Szene im Film – auch ein Saxophon.
Am Sonntagmorgen (25. Juni) verpasste ich die Chance, „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ zu sehen – fuhr stattdessen mit dem Bus raus zum MAST, wo es eine grossartige Ausstellung zu sehen gibt mit Fotos von Andreas Gursky (von ihm selbst und dem Direktor des MAST co-kuratiert). Der Kinotag ging dann erst um 14:30 los mit ELDRIDGE CLEAVER (William Klein, DZ/FR, 1971) einer Mischung aus Agit-Prop und Dokumentarfilm, entstanden am Rand des Festival Panafricain d’Alger. Das war meine erste Vorstellung aus der 16mm-Reihe, eine fragile Kopie, die aus dem Nachlass das Schauspielers Gérard Rinaldi (1943-2012) an die Cinématheque16 überging. Eine Kopie allerdings, die in ihrer Materialität – die Körnigkeit, die Farben – sehr beeindruckend anzuschauen ist, mit Ektachrome gefilmt, die Untertitel eingebrannt, französische Zwischentitel nachträglich eingefügt, und ab und zu sind auch noch handschriftliche Notizen für einen kurzen Augenblick zu sehen.
AMOK (Fëdor Ocep, FR, 1934) war mein nächster Film, ein langer Fiebertraum nach Zweigs Novelle. „Amok is a Malay word describing a paroxysmal state of fury induced by opium“ – und das stellt der Film in den ersten zehn Minuten eindrücklich dar. Der Dschungel Malaysias wurde im Studio nachgebaut – was allerdings überaus eindrücklich gelang. Der gefallene, dem Alkohol verfallene Arzt im Exil (Jean Yonnel), der den oder bei dem der Amok stoppt, kriegt Besuch von einer weissen Frau – und da zeigt der Film sein leider überaus rassistisches Gesicht: „une vraie femme … une femme blanche“, sagt der Arzt staunend – , die ihn für eine Abtreibung aufsucht, weil niemand in der Stadt davon wissen soll. Der Arzt – beleidigt von ihrem Angebot, er fühlt sich herablassend behandelt – lehnt ab, bemüht sich danach aber, den Ruf der Frau zu schützen, die den Eingriff mit tödlichen Konsequenzen bei einer illegalen lokalen „Engelmacherin“ durchführen lässt, derwiel der Ehemann fast schon von seiner langen Reise zurückgekehrt ist … ein starker Film mit einem äusserst unschönen Beigeschmack.
Weil Carlo Chatrian bei seiner Einführung für „Rio Bravo“ ins Labern gekommen war, begann mein nächster Film eine halbe Stunde verspätet, CRY, THE BELOVED COUNTRY (Zoltán Korda, GB, 1951) – doch das Warten (es gab einen Spaziergang und ein Gelato) sollte sich lohnen. Korda sei der Regisseur, der wie kein anderer Filmemacher alle Ecken des British Empire abgegrast habe. „Cry“ drehte er in Südafrika, dokumentiert dabei unbehindert von den imperialistischeren Ansichten seines Bruders Alexander (neben Zoltán und Drehbuch-Co-Autor Alan Paxton Co-Produzent) das Leben im von der Apartheid getrennten Land. Dass die beiden Hauptdarsteller aus einem Land mit einem ganz ähnlichen rassistischen System stammten, gibt dem Film zusätzliche Würze: Canada Lee und Sidney Poitier mussten als ihre Visa als „domestic servants“ von Korda beantragen, um ins Land zu gelangen und an der Seite von Korda und dem weissen Teil des Cast und der Produktionscrew arbeiten zu können. Ein Film, der unzweifelhaft eine Anklage gegen Rassismus (nicht nur in Südafrika) und gegen die Unterdrückung und das Elend, das der Kolonialismus mit sich brachte, darstellt. Dass Teile des Films on location in den Slums um Johannesburg gefilmt wurden ist natürlich besonders bemerkenswert, dass zudem manchmal Musik aus dem damaligen Südafrika erklingt ebenfalls toll (leider gibt es keine Details dazu in den Credits, Raymond Gallois-Montbrun hat den Hauptteil des Soundtracks komponiert – geboren 1918 in Saigon passt denn auch in die Kolonialzeit).
Ein überaus gelungener und sehr breiter Einstieg bis dahin, womit ich bereit war für den ersten richtig heftigen Kino-Tag, Montag 26. Juni. Um 9:15 guckte ich das Programm „Le attuatlità senegalesi“ mit vier kurzen Dok- bzw. Nachrichtenfilmen, die 2017 im verlassenen Gebäude des ehemaligen Informationsministeriums in Dakar gefunden wurden: LE SÉNÉGAL ET LE FESTIVAL MONDIAL DES ARTS NÈGRES (Paulin Soumaunou Vieyra, 1966, 28’), IFE / 3ÈME FESTIVAL DES ARTS (Vieyra, 1971, 13’), SÉNÉGAL AN XVI (Babacar Gueye, Orlando Lopez, 1976, 21’) und VOYAGE AUX ANTILLES DU PRÉSIDENT SENGHOR (Georges Caristan, 1976, 17’). In den ersten beiden Filmen wird eine neue urbane Modernität gefeiert in der Metropole, die jetzt vom Joch des Kolonialismus befreit in eine neue Zeit aufbricht – dabei wird moderne Architektur so toll ins Bild gesetzt wie die Kunst, die bei den Festivals, die als Aufhänger dienen, gezeigt und hergestellt wird. Ein Ausflug aufs Land ist auch drin, das ganze kommt im Wochenschau-Stil daher. Am Festival Mondial wirkten u.a. André Malraux, Duke Ellington, Langston Hughes, Josephine Baker oder Aimé Cesaire mit. Im zweiten Film sind u.a. Wole Soyinka und Ousmane Sembène zu sehen, von dem beim Festival „Ceddo“ und über den eine kleine Foto-Ausstellung gezeigt wurde – letztere habe ich angeschaut, den Film aber leider verpasst. Beim 16. Geburtstag unterstützte dann Nordkorea die Feierlichkeiten der senegalesischen „Demokratie“ – und dass da schon wieder etwas aus dem Lot war, konnte man sich auch angesichts der endlosen Paraden denken, die gezeigt werden. Neben dem Bericht über die Jubiläumsfeierlichkeiten (Sportanlässe, Militärparade, Abschlussevent im Präsidentenpalast) wurden dann auch noch Nachrichten gezeigt: der Besuch des ivorischen Präsidenten Félix Houphouët-Boigny im Elysée-Palast, um die Rolle Europas im postkolonialen Afrika zu besprechen, die Einflussnahmen der USA wie der Sowjetunion, ein Treffen mit Jacques Chirac. Dann folgte noch ein Bericht über ein französisches Patent für einen Impfstoff, mit dem bei einem Meningitis-Ausbruch in Brasilien rasch geholfen werden konnte (da stehen die Menschen dankbar in langen Schlangen an). Im letzten Film reisten wir dann mit Senghor durch die Antillen und feiern irgendwelche Völkerfreundschaften, besuchen das Set von Sembènes „Ceddo“ und die Eröffnung von „Ramsès le Grand“ im Pariser Grand Palais. Klar wird auch aus dieser Zusammenfassung, wie zentral Frankreich auch im Jahr XVI noch war.
Mit PROCESSO ALLA CITTÀ (Luigi Zampa, IT, 1952) sah ich danach einen (einzigen) Film aus der Reihe, die Suso Cecchi d’Amico gewidmet war. Ein früher, eindrücklicher und eindringlicher Spielfilm über die Mafia. Es war 1952 noch nicht denkbar, ihn über die Camorra der Gegenwart zu drehen, also wurde er im Neapel von einigen Jahrzehnten davor angesiedelt. Die Mafia ist eine parasitäre Bürgersgesellschaft, die ausbeutet und mordet, deren Netz durch die ganze Gesellschaft geht und auch die Polizei beinhaltet, die gemeinsam mit der Hauptfigur, einem unerschrockenen Richter, der am Ende völlig allein da steht, zu ermitteln vorgibt, aber in Wahrheit nichts anderes als zu vertuschen sucht, Sündenböcke organisiert – und dabei in den Logen in der Oper sitzt, wo sich die jüngsten Neuigkeiten natürlich blitzschnell verbreiten. „Perhaps the best screenplay I ever wrote is the one for Processo alla città. It is a really beautiful screenplay … Zampa is an underrated director. I think he played an important role. I have always admired his ability to make our stories relevant, all the while often placing them within the context of entertaining comedies. He was a director whose style was less artistic than some of those who followed, but his strengths are indisputable“ (Suso Cecchi d’Amico).
Weiter ging es am Nachmittag mit PROSOPO ME PROSOPO (Roviros Manthoulis, GR, 1967), für den die angekündigte Einführung leider entfiel. Ich habe von Manthoulis noch nie gehört, fand den Film enorm beeindruckend. Sehr Sixties, in bestechenden s/w-Bilden fotografiert, oft sehr cool – und zugleich zeigt der Film wiederum eine skrupellose, amoralische Elite in Form einer Familie, die sich selbst permanent überwacht und in die quasi als Vertreter des Publikums ein Aussenseiter als Englischlehrer der Tochter eindringt … oder eher, so scheint es die Familie zu planen: sich einnistet und kleben bleibt in der Falle. Kafkaeske Momente also immer wieder, am Ende eine Befreiung, wenn der Protagonist sich heroisch losreisst und seine Arbeiterklassen-Maskulinität zurückerobert, die ihm von den neuen Barbaren (die Tochter heisst Barbara) davor genommen wurde. Der Film gewann 1966 ein paar Preise, wurde natürlich nach Beginn der Militärdiktatur verboten. Was mögliche Lesarten angeht bin ich mir überhaupt nicht sicher (auch die Sache mit der Maskulinität – heute in der Form zum Glück aus der Zeit gefallen … eben: schade entfiel die Einführung, die Maria Komninos vom griech. Filmarchiv hätte halten sollen).
Der nächste Film war laut. Irre. Und irre laut! THE PLOT AGAINST HARRY (Michael Roemer, US, 1971/1989). Roemer war im Rahmen der „Ritrovati e Restaurati“-Reihe ein kleiner Schwerpunkt gewidmet, nebst den Filmen, die ich hier erwähne, lief auch noch „Nothing But a Man“ von 1964 mit Abbey Lincoln, den ich schon kannte, wenngleich nicht aus dem Kino … aber solche Überlegungen spielten halt bei der persönlichen Programmgestaltung eine Rolle, angesichts des unglaublichen Reichtums des Gebotenen). Harry Plotnick ist ein wahnhafter jüdischer Mobster, der am Anfang des Filmes aus dem Gefängnis kommt und sich darum bemüht, wieder Anschluss zu finden. Der Film, „animated by documentary flair that captures both New York’s simmering multi-ethnic melting post as well as remarkable images of a now lost world“, präsentiert eine Reihe grossartiger Szenen, nicht zuletzt aus einem Catering-Unternehmen, einem Golfclub direkt neben einem mehrspurigen Highway (der Film ist LAUT! Mir pfiffen wirklich die Ohren nach den 80 Minuten), jüdische Familienfeste, Lingerie-Modeschauen etc. Roemer hat dafür lange recherchiert und gleich ein Jahr bei einem jüdischen Catering in Long Island gearbeitet. Das Ensemble besteht zum allergrössten Teil aus Laien-Darsteller*innen. Und der ganze Film ist so komisch wie er laut ist (also irre komisch) – und klar, Harry geht einer grossen Verschwörung auf den Leim, aber das spielt eigentlich am Ende gar keine so grosse Rolle mehr. Ein irres Vergnügen!
Und danach war’s noch nicht mal Zeit für die kurze Abendessen-Pause. Es ging mit YUKINOJO HENGE (Teinosuke Kinugasa, JP, 1935) weiter, in dem ein Kabuki-Schauspieler, der (wie früher Kinugasa) auf Frauenrollen spezialisiert ist („onnagata“), sich an den beiden Bösewichten rächt, die einst seine Eltern in den Ruin und in den Selbstmord getrieben haben. Der Film blieb für mich streckenweise undurchdringlich und rätselhaft, auch über die langen Szenen aus dem Theater hinaus – wo der Hauptdarsteller ein gefeierter Star ist, der nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, dem Ort des einstigen Geschehens – wirkte das zu Sehende oft äusserst theatralisch und ja: manchmal wie abgefilmtes Theater. Das ist um so erstaunlicher angesichts der Stummfilme Kinugasas (s.u.), aber natürlich auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass das genau so sein sollte. Dass das ganze auch noch ein das steife Korsett einer Rahmenhandlung gepackt wurde, machte die Sache nicht besser. Dafür gab es wunderbar poetische Szenen und einige tolle Martial-Arts-Einlagen. Eine der besten kombinierte beides, eine der grossen Racheszenen gegen Ende, ein Schwertkampf des Helden mit zwei Kontrahenten in einer leeren Nebel-Studiolandschaft, die gar nicht erst versucht, wie eine realistische Landschaft auszuschauen. Da überwindet der Film dann doch wieder alles, was ihn sonst schwerfällig und steif macht.
An dem Abend musste ich dann wieder auf die Piazza (und verpasste deswegen Peckinpahs „Cross of Iron“, den ich schon sehr gerne mal noch sehen würde): da gab es STELLA DALLAS (Henry King, US, 1925) mit Live-Begleitung durch das Orchestra del Teatro Comunale unter der Leitung von Timothy Brock (er ist in dieser Rolle wohl seit Jahren dabei, ich war 2016 schon auf der Piazza, als das TCB-Orchester und Brock einen Chaplin-Klassiker begleiteten). Die neue Musik von Stephen Horne fand ich leider eher belanglos – durchaus nett anzuhören, aber das plätscherte halt so dahin (nach dem tollen Chaplin-Soundtrack von Brock davor war halt der Kontrast auch gross). Den Film fand ich jedoch umwerfend – ein Drama um eine eigenwillige, unabhängige und doch irgendwie gefangene Frau, die irgendwann merkt, dass sie sich zurückziehen muss, damit ihre Tochter ein eigenes Leben leben kann. Lustig, tragisch, voller wunderbar zarter Bilder und Szenen, mit einem grandiosen Highlight gegen Schluss, wo Stella im Regen am Zaun steht und von draussen die Hochzeit ihrer Tochter beobachtet – bis ein Polizist sie unsanft wegschubst und zum Weitergehen auffordert. „We are stirred into sympathy with all these people because we cannot help identifying with them“, zitiert das Programm eine zeitgenössische Kritik: „the whole picture is so full of the half-tones of which ordinary life is composed.“
Fortsetzung folgt … zu Teil 2
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