Rouben Mamoulian (1897–1987) (Il Cinema Ritrovato 2023 - Nachtrag)


 Mamoulian kam am 8. Oktober 1897 in Tiflis zur Welt, Sohn einer kunstliebenden armenischen Familie, studierte oder arbeitete in Moskau, Paris, London, Rochester und New York, bevor er nach Hollywood ging. Dort verantwortete er zwischen 1929 und den mittleren Dreissigern eine Reihe von Filmen voller Experimente. „There’s a sense of euphoria an hypersensitivity in his filmmaking“ schreibt Ehsan Khoshbakht im Programmbuch zum diesjährigen Il Cinema Ritrovato in Bologna (von wo auch die folgenden Zitate stammen). Danach versuchte Mamoulian, sich ins Studio-Gefüge besser einzufügen – seine frühen Filme waren nicht mehr zu sehen, als der production code etabliert war: „too many sexual innuendos and lacy negligees“.

Mamoulian kostete die technischen Möglichkeiten aus, in seinen Worten: „[the] only worthwhile innovation is the one coming from artistic necessity“ – über sein Debut „Applause“ (1929) schreibt Khoshbakht:

Though some of the techniques used in the film are not exactly new, the impeccable execution and the way match cuts, split-screen and sound collage are integrated into the narrative give the film a whole new identity. The camera, unleashed like a butterfly, traverses jerkily through ghostly scenes in which the muffled sound of the early talkies reinforces the medium’s ghostliness. An astonishing debut.

In manchen Filmen arbeitet Mamoulian wie ein Maler. „Blood and Sand“ von 1941 über den Aufstieg und Fall eines Toreros ist das beste Beispiel dafür. Goya, Velázquez oder El Greco hat Mamoulian studiert und setzt ihre Kunst um, inszeniert Tableaux des Begehrens, der Verführung, des Todes, mit Hilfe seiner Kameramänner Ernest Palmer und Ray Rennahan, die für ihre Technicolor-Arbeit mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Mamoulian erzählte später in einem Interview (Sight & Sound Nr. 3, Sommer 1961), wie er gearbeitet hatte. U.a. habe er stets eine riesige Kiste mit Schals, Taschentüchern etc. in allen möglichen Farben dabeigehabt, um damit bei den Kostümen jederzeit Farbakzente setzen zu können. Und er hatte eine ganze Batterie von Sprühpistolen, mit denen er die Sets, die Kostüme oder sogar die Darsteller*innen im Bedarfsfall ansprühte. „The art director had made me a beautiful chapel; and he was very upset when I sprayed everything with green and grey paint. Then again, there’s a banquet, which was done entirely in black and white. There were flowers on the table and (naturally) the leaves were green. I think when they saw me painting them black, they went and told Mr Zanuck I’d gone out of my mind.“

Bei anderen Filmen hat Mamoulian wie ein Musiker gearbeitet (weniger als die Hälfte seiner Filme sind Musicals), besonders eindrücklich in „Love Me Tonight“ (1932): beeindruckten die erste Szene in einem erwachenden Studio-Paris, in der sich aus Geräuschen, deren Quelle im Bild zu sehen sind (Fenster werden geöffnet, Eingänge gewischt, Nägel in Schuhe gehämmert usw.) eine sich stetig verdichtende musique concrète entsteht. Später gibt es u.a. eine Szene, in der eine Jagdgesellschaft (zu Pferd) auf Zehenspitzen davonschleicht (mit schneller gefilmten und regulär abgespielten Aufnahmen – das Gegenteil gibt es natürlich auch – , weil Maurice Chevalier, der liebenswerte Schneider und halbfreiwillige Hochstapler, den müden Hirsch in die Jagdhütte zur Siesta gebeten hat). Der Film ist – oder wirkt – komplett durchchoreographiert, auch da, wo nicht gesungen wird oder nur wenige Personen grosse Räume bespielen.

Die Rolle von Gegenständen – nicht nur den immer wieder auftauchenden Spiegeln oder den Katzen, die immer wieder als kurze Einsprengsel, als Scharniere zwischen Szenen zu sehen sind – ist ebenfalls evident. Am beeindruckendsten sicherlich die post-koitale Szene in „Queen Christina“ (1933), in der Garbo den Raum abschreitet, in dem sie – „a case of mistaken gender (she’s in drag) turns seamlessly into mistaken identity“ – , die „bachelor queen“, gerade die Liebe entdeckt hat: gleichmässig (ein Metronom half beim Dreh) schreitet Greta Garbo das Zimmer ab, ihre Hand streicht über die Gegenstände, die darin herumstehen, sie prägt sich den Raum Detail für Detail ein.

Fetische (Beine, Lingerie), Spiegel und Schatten, Statuen und Gemälde, Maskeraden und Verschleierungen … Mamoulian machte bis 1942 weiter, doch verlor sein Schaffen an Schwung. Doch auch in den schwächeren Filmen gibt es wunderbare Momente, z.B. die authentischen russisch-orthodoxen Choräle in „We Live Again“ (und die Ausstattung ist auch hier bemerkenswert). Samuel Goldwyn hatte Mamoulian in diesem Fall engagiert, um aus seiner Protégée Anna Sten einen Star zu machen – klappte nicht wirklich, Cole Porter machte in „Anything Goes“ später Scherze darüber: „When Sam Goldwyn/Can with great conviction/Instruct Anna Sten in diction/Than Anna shows/Anything goes“.

Porter schrieb die Musik zum letzten Film, den Mamoulian 1957 machte, „Silk Stockings“, eine Film-Version des gleichnamigen Musicals von 1955 und zugleich eine Neuverfilmung von Lubitschs „Ninotschka“. Fred Astaire spielt darin einen US-Produzenten, der ein Musical mit dem russischen Komponisten Peter Illyich Boroff (ein Rachmaninoff-Verschnitt?) auf die Beine stellen will. Cyd Charisse glänzt als Ninotchka Yoschenko, die den Russen und die drei auf ihn angesetzten, ebenfalls der Dekadenz anheimgefallenen Agenten (darunter Peter Lorre) heim bringen soll.

Es sollte sein letzter Film bleiben. Schon davor, 1944, wurde er bei „Laura“ von Otto Preminger ersetzt. Das wiederholte sich 1959 bei „Porgy & Bess“ (den ich echt gerne mal sehen würde – scheint ein Ding der Unmöglichkeit?), bei „Cleopatra“ (1963 – Joseph Mankiewicz übernahm, flog dann aber vor der Post-Production ebenfalls raus, die Darryl F. Zanuck verantwortete) zog er dann selber von Dannen, als alles aus dem Ruder zu laufen schien.

Rouben Mamoulian starb am 4. Dezember 1987 in Woodland Hills, Los Angeles.


Applause (1929) ****
City Streets (1931) ****1/2
Love Me Tonight (1932) ****
Queen Christina (1933) ****1/2
We Live Again (1934) ***
Golden Boy (1939) ****
Blood and Sand (1941) ****1/2
Rings on Her Fingers (1942) ****
Silk Stockings (1957) ****

Verpasst habe ich leider „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1931), „The Song of Songs“ (1933 mit Marlene Dietrich) und „The Mark of Zorro“ (1940) sowie die knapp einstündige Dokumentation „Rouben Mamoulian – Lost and Found“ (André S. Labarthe, FR/UK, 2016). Letztere beruht wie es scheint hauptsächlich auf dem ausführlichen Interview, das Hubert Knapp mit Mamoulian 1965 in Hollywood in französischer Sprache führte (gefilmt von Labarthe). Eine ungeschnittene Version davon ist derzeit bei Youtube zu finden:



Il Cinema Ritrovato, Bologna, 24 June - 2 July 2023 - XXXVII edizione (3/3)

 

Den Einstieg ins letzte Drittel (Freitag 30.6.) machte ich dann etwas geruhsamer: die zwei Morgenslots, den ersten vom Nachmittag und dann eine lange Pause bis zur Spätvorstellung. Am Morgen ging’s in die Cinemalibero-Reihe, aus der ich doch ordentlich viel gesehen habe. Los ging es mit dem Viertelstündigen LES FEMMES PALESTINIENNES (Jocelyne Saab, FR, 1974, 16’), danach folgte der normallange LAYLA WA ZI’AB (Leila e i lupi / Leila and the Wolves) (Heiny Srour, GB/LP/FR/BE/NL/SE, 1980–1984). „Femmes“ schien mir – ähnlich wie der Film über Eldridge Cleaver – mindestens so sehr Propaganda wie Dokumentarfilm. „I have always tried to stand by and fight for what I believed in, to show and analyse a constantly changing Middle East, which fascinated me … in 1973, I made Les Femmes palestiniennes for the French channel Antenne 2. I wanted to show images of these Palestinian women fighters in Syria, which were very rare at the time. It was just before Sadat’s visit to Israel and the situation was very tense. While I was editing the film at Antenne 2, Paul Nahon, then head of foreign correspondence, grabbed me by the collar and pulled me out of the editing room. Les Femmes palestiniennes was shelved and never televised“ (so Saar 2015, aus dem Programmheft). Das erstaunt nicht weiter – und dennoch bietet der Film faszinierende Einblicke in eben die Welt der an der Waffe kämpfenden palestinensischen Frauen. Viel faszinierender, ja endlos faszinierend, fand ich dann den Film von Heiny Srour, der viel breiter die Rolle der Frau im Nahen Osten („Middle East“ in der britischen Terminologie, wo der „Near East“ den Balkan und das osmanische Reich ohne den Iran etc. bezeichnet) – „Weaving together memory, myth and archival materials, Layla Wa zi’ab is a significant point of intersection between the militant and anti-colonial cinema of the pioneers of the Tercer Cine and feminist historiography“ (Cecilia Cenciarelli im Programmheft). Ein Avantgarde-Film voller eindringlicher Bilder – in dem auch die Verachtung der Frauen durch ihr eigenes Umfeld (z.B. der Kämpferinnen im Verband mit Männern) schonungslos aufgezeigt wird. Metaphern, Rätsel, Poesie – ein Meisterwerk, das im Detail schon nicht leicht zu entschlüsseln ist, aber auch auf einer rein filmischen Ebene funktioniert und mich schwer beeindruckt hat. Der Film wurde weltweit vertrieben, aber in den meisten arabischen Ländern – erneut: wenig überraschend – zensiert.

Bevor es mit dem nächsten plättenden Film weiter ging, gab es eine Atempause mit Mamoulian: SILK STOCKINGS (Rouben Mamoulian, US, 1957) ist der letzte fertiggestellte Film, als Mamoulian längst nur noch sporadisch in Hollywood tätig war. Fred Astaire spielt darin den amerikanischen Produzenten Steve Canfield, der ein Musical mit Musik des russischen Komponisten Peter Ilyitch Boroff (Wim Sonneveld) aufführen will. Drei russische Agenten, die dafür sorgen sollten, dass dieser sich nicht darauf einlässt und in die Heimat zurückkehrt (unter ihnen Peter Lorre) sind längst der Dekadenz des (Studio-)Paris verfallen, tragen teure Anzüge, trinken Champagner, geniessen das westliche Leben. Also wird Ninotchka geschickt, um die drei an ihren Auftrag zu erinnern und alle viere in die Heimat zurückzubringen. Das ist dann natürlich die besonders bezaubernde Cyd Charisse – der Film damit einerseits eine Leinwandadaption des 1955er-Musicals wie auch ein Remake des berühmten Lubitsch-Films. Natürlich kriegen wir Mamoulians Fetische (Beine, Strümpfe, Lingerie), ein immer wieder vollkommen durchdachtes Bühnenbild, ein paar schöne Songs von Cole Porter, von denen aber nur „All of You“ – dessen Motiv instrumental schon früh im Film und auch später immer wieder auftaucht – ein echter Klassiker ist. Dazu gut choreographierte Massenszenen, etwas Zeitgeist („The Ritz Roll and Rock“) und natürlich aus heutiger Perspektive viel Kalte-Krieg-Nostalgie. Ein wunderbares Vergnügen, fand ich.

Danach das erste von zwei Meisterwerken des iranischen Regisseurs Bahram Beyzaie, von Ehsan Khoshbakht in eindringlichen Worten vorgestellt: GHARIBEH VA MEH (Bahram Beyzaie, IR, 1974). Mehr Nebel als in allen Filmen Antonionis zusammen und mehr Schlamm als bei Béla Tarr gebe es hier, so Khoshbakht. Ein mysteriöser Fremdling kommt am Ufer eines Küstendorfes an und verliebt sich in eine Frau, deren Mann ein Jahr zuvor vom Fischen nicht zurückgekehrt ist. „In this endlessly symbolic tale, ghosts of the past, narrow-minded villagers and forces beyond the control of the characters take the viewer into a dizzying labyrinth of rituals“ (Khoshbakht im Programmheft). Die ganzen Riten, Masken, Kostüme, die im Film eine so zentrale Rolle spielen, auch die „traditionelle“ Musik, all dies habe Beyzaie erfunden. Ein Film von zugleich archaischer Wucht und kafkaesker Beklemmung, ein Entgleiten in eine Traumwelt, die immer wieder bedrohliche Züge annimmt. Die Charaktere spiegeln sich gegenseitig, erzeugen sich erst richtig, bewegen sich am Übergang zu Mythen. Auch wenn der Film in einer fernen Vergangenheit spielt – und den Dörflern auch völlig uniranisches Verhalten angedichtet wird, so brüllen sie immer wieder im Chor, was als Hommage an Kurosawas Samurai-Filme zu verstehen sei – beschäftigt es sich eindeutig mit der iranischen Gegenwart, beschwört mit seiner irren und brutalen – umso brutaler wirkenden weil völlig ohne Erklärungen auskommenden – Schlussszene auch Bilder der iranischen Revolution herauf. „Gharibeh va meh, or at least some of its most essential images came right out of my nightmares. I realised the fear that was tormenting me in Iranian society was now growing even bigger within me. The critics‘ reading and interpretation of the film after is premiere at Tehran International Film Festival proved that my fears were right. Gharibeh va meh was a warning about an impending danger that peole were either oblivious to, or chose to stay ignorant of. They saw the signs of the looming threats addressed in the film but opted to attack the film and label it as ‚incomprehensible‘ and ‚anti-religious'“ (Beyzaie im Programmheft). Ganz anders die Rezeption im Westen: Beyzaie erinnert sich an einen Festivalbericht in „Sight & Sound“ oder „Films and Filming“, in dem stand, der Regisseur (der auch sein Drehbuchautor) war sei „five years ahead of his time“ – als hätte der Journalist gewusst, dass fünf Jahre später im Iran etwas geschehen würde – die rückschrittliche Revolution, zu der auch jene Kreise gehörten, die hinter dem furchtbaren Brandanschlag auf das Kino Rex im Jahr 1978 standen.

Am Nachmittag hatte ich den geplanten Besuch von „Kawanaka Jiam Kassen (Kinugasa, 1941) gestrichen, um mir eine längere Pause zu gönnen. Und am Abend war ich unschlüssig: einerseits hätte es auf der Piazza den zweiten Film mit dem Orchester des Stadttheaters unter Timothy Brock gegeben, Lubitschs „Lady Windermere’s Fan“ (1925), der dann allerdings wegen des unsicheren Theaters in den Konzertsaal, das Auditorio Manzoni, verschoben wurde (zudem gab’s eine zweite Aufführung mit Sosin am Klavier in einem der grossen Kinosäle) – doch ich entschied mich, endgültig angefixt, für QUEEN CHRISTINA (Rouben Mamoulian, US, 1933) – und kriegte die Original-Ninotschka also an dem Tag auch noch zu sehen: Greta Garbo in einer umwerfenden Rolle als burschikose „bachelor queen“, wobei der Film mit ihrer Inthronisierung als sechsjährige einsetzt und mit ihrer Abdankung und dem folgenden Gang ins Exil endet. Bei einer ihrer vorübergehenden Fluchten vom gestrengen Hof (der sie zu einer Heirat ihres Cousins Karl Gustav zu nötigen suchte) trifft sie zufällig auf den Gesandten des spanischen Hofes – die Königin als adliger Jüngling verkleidet. Doch man muss sich das Gemach teilen, aus dem falschen Geschlecht wird eine falsche Identität, die beiden verlieben sich, verbringen – eingeschneit – ein paar glückliche Tage in diesem Zimmer. Da gibt es dann auch die phänomenale Szene, in der Garbo – anscheinend durch ein Metronom angeleitet – nach Vollzug des Geschlechtsakts den Raum abschreitet, mit ihrer Hand über all die Gegenstände fährt. Was sie denn mache, fragt der Spanier (John Gilbert im vierten und letzten gemeinsamen Film). Sie präge sich diesen Ort Stück für Stück ein, um sich später an das erlebte Glück erinnern zu können. Die Königin eine Gefangene, die lieber Privates Glück erleben würde, doch die Rolle verhindert das. Die ambigue Sexualität der Garbo macht sich in diesem Film schon früh bemerkbar, in der Szene nämlich, als sie ihre liebste Hofdame auf den Mund küsst. Im Gegensatz zu ihren anderen Regisseuren der Zeit „beschenkt“ Mamoulian Garbo nicht mit ständigen Close-Ups auf ihr Gesicht. Es gibt nur drei davon, ein zweifelndes, ein fürchtendes – und am Schluss eine grossartige Szene, „one of the most profoundly moving in 1930s cinema. ‚I want your face to be a blank sheet of paper,‘ Mamoulian told Garbo. He asked her to be no more than a beautiful mask and all of a sudden, Garbo’s paraffin tears instigate real tears. In the final close-up, her face becomes a poem“ (Khoshbakht im Programmheft).

Für den Samstag (1. Juli) hatte ich fünf Plätze gebucht – und dennoch eine lange Pause drin. Um 9 Uhr ging es los mit SMOG (Franco Rossi, IT, 1962), einem sehr stylishen Film, der ersten vollständig in den USA (Los Angeles) gefilmten italienischen Produktion. Ein etwas unangenehmer Anwalt aus Rom muss einen Tag auf seinen Anschlussflug nach Mexico warten – und darf aufgrund eines Arrangements seiner Fluggesellschaft den futuristisch ins Bild gesetzten Flughafen (LAX) verlassen. Er geht zu Fuss durch den riesigen Parkplatz aka L.A., läuft den endlosen Highways entlang, entdeckt irgendwann eine Kunstgalerie, in der ein Landsmann ausstellt, kommt mit einem Helfer in der Galerie ins Gespräch, der ihn mitnimmt. So beginnt die Odyssee des Anwalts durch die Kreise der Italo-Amerikaner in L.A. (einer der Drehbuchautoren war selbst in solcher, der Film enthält Begegnungen und Ereignisse, die aus dem Erlebten der Drehbuchautoren übernommen wurden). Er trifft auf schöne Frauen, beeindruckende Villen auf den Hügeln über L.A., besucht die Ölfördergebiete, eine Bowling Bahn, eine Upper-Class-Party usw. Oberflächlichkeit, Provinzialität, Wirtschaftswunder. Dazu coole Musik von Massimo Urbani, hie und da mit Chet Baker an der Trompete und zwei Songs von Helen Merrill. Der Film öffnete zwar 1962 das Filmfestival von Venedig, geriet jedoch in Vergessenheit. Als die Titanus, die Produktionsgesellschaft, mit „Il Gattopardo“ und „Sodom and Gomorrah“ die Pleite riskierte, verkaufte sie ein Paket von Filmen an MGM, darunter auch „Smog“, der damit erst recht in Vergessenheit geriet und 2022 von der Cineteca Bologna und dem UCLA Filmarchiv in Zusammenarbeit mit Warner Bros. restauriert wurde. Sehenswert.

Da ich erst um 12 Uhr ein Stummfilmprogramm gebucht hatte, setzte ich mich noch in den Vortrag Case Study: The restoration of Man’s Castle von Rita Belda (links im Bild oben), die aufzeigte, wie sie mit den drei vorhandenen Kopien von „Man’s Castle“ die beim Festival gezeigte restaurierte Version hergestellt hat. Das war für den Laien ziemlich faszinierend, und wie so oft konnten manche Fragen (warum z.B. eine UK-Kopie, die erst in den frühen Vierzigern gezogen wurde, Szenen enthalten konnte, die beim Nachschnitt gestrichen wurden, in der Regel effektiv direkt aus dem Film geschnitten und vernichtet – 1933 verfestigte sich der Code und der Film wurde, wie so viele andere Filme wurde auch „Man’s Castle“ nachträglich umgearbeitet (gestrichten wurde ironischerweise auch eine Zeile aus dem „Hohelied“, weil das zu schlüpfrig war). Nachdem ich den Film tatsächlich grossartig fand, war es toll, dazu etwas mehr Einblicke zu kriegen (Belda hatte schon vor dem Film ein paar Minuten gesprochen).

Dann ging es weiter zum Programm „Best of 1903“, einem Stummfilprogramm mit hervorragender Klavierbegleitung durch Gabriel Thibaudeau. Es gab: CAPTAIN DEASY’S DARING DRIVE: ASCENT (DE, 5′), PLANCHE À RAINURES (FR, 1′), DESCENTE DANS LA BATTERIE (FR, 1′), AKT-SKULPTUREN (DE, 4′), VALSE EXCENTRIQUE (FR, 2′), A TROUPE OF RUSSIAN DANCERS (GB, 1′), L’OURS ET LA SENTINELLE (FR, 2′), LE GENDARME ET LES DOMESTIQUES ([Gaston Velle], FR, 2′), LE CHAUDRON INFERNAL (Georges Méliès, FR, 2′) und LE ROYAUME DE FÉES (Georges Méliès, FR, 17′), wenn mich nicht alles täuscht – „Captain Deasy’s Daring Drive: Descent“ war leider nicht zu sehen, obwohl das schon sehr spannend gewesen wäre, denn der irre Captain fährt mit einem Auto eine Bergbahnstrecke hoch und lässt sich dabei von einer auf dem hinterherfahrenden Zug montierten Kamera filmen, die ebenfalls gezeigt wird, wie auch ein paar Totalen von der Wegstrecke, in denen dann weitere Kameras zu sehen sind, deren Bilder in den Film geschnitten wurden – alles ziemlich elaboriert. Meine Vermutung: die Karre war Schrott und es gab nichts mehr, um herunterzufahren. Youtube belehrt mich aber eines Besseren, es gibt hier die Hälfte des „Descent“ zu sehen:


Gefilmt wurde das in Caux oberhalb des Léman, in der Schweiz. Das war ein sehr buntes Programm mit Slapstick (der Bär, der mit dem Wachhäuschen „tanzt“), Proto-Schulmädchenreport (die „Akt-Studien“), Surrealismus (die Diener zerteilen den Gendarmen und setzen ihn wieder zusammen) usw. Am schönsten fand ich den langen Méliès-Film am Schluss, eine typische Mischung aus Zeichentrickfilm/Animation und real gefilmten Personen inklusive Unterwasserszenen und Begegnungen mit Kulissenfischen, Reise im Walfischbauch etc. (und einem Fels, der aussieht wie der Kopf des alten Brahms, aber das habe ich mir wohl im Filmrausch nur eingebildet – die Qualität der in der Tube zu findenden Versionen des Filmes ist viel zu bescheiden, als dass sowas nachgeprüft werden könnte). Ein „weit entferntes Land“ sei das Stummfilmkino, so Mariann Lewinsky in ihrer Einführung, bei der auch die ganze Crew der Stummfilmreihen verdankt wurde – und es war wunderbar, darein eintauchen zu können, hier, mit den Filmen von 1923, ebenso wie mit einzelnen anderen Stummfilmen (Kinugasa, Chaplin, der Screentest von Mamoulian …)

Um 14 Uhr hatte ich dann den zweiten Schock mit dem Cinema-ye Motafavet (Iranian New Wave): CHERIKE-YE TARA (Bahram Beyzaie, IR, 1979). Nach dem überlangen „Stranger and the Fog“ ist die „Ballade von Tara“ konziser und in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung des feministischen Kinos des ersten Filmes (140 und 102 Minuten dauern sie). Nachdem die Figur der Rana im ersten Film zwar stets mehr zu wissen scheint als alle anderen um sie herum (was vielleicht auch wirklich stimmt, denn gegen Ende des Filmes, nachdem der Fremde sie heiraten will, wird er eines Nachts angegriffen und tötet den Angreifer, der sich als der „verschwundene“ Ehemann entpuppt, der vor seinem Verschwinden Wertsachen versteckt und vergraben hatte und diese holen kommen will, als der Fremde ihn überrascht), so ist Tara im späteren Film der unweigerliche Mittelpunkt, ihre Figur einer unbeirrbaren Witwe wird von der Debütantin Susan Taslimi beeindruckend verkörpert. Kaum hatten die Dreharbeiten begonnen, erreichte die Crew die Nachricht vom Anschlag auf das Kino Rex mit über 400 Todesopfern, ausgeführt im im Auftrag von Mitgliedern der Geistlichkeit aus Qom auf Anweisung Chomeinis. Die „Prophezeiung“ von „Gharibeh va meh“ war damit wahr geworden – doch Beyzaie setzt gleich zu einem weiteren prophetischen Film an, deren Hauptfigur die Frauen vorwegnimmt, die seit der Ermordung von Jina Mahsa Amini im September 2022 ihren Protest im Iran mit unglaublicher Stärke auf die Strasse tragen. „Bahram Beyzaie’s seamless blend of myth, symbolism, folklore and classical Persian literature in Cherike-ye Tara is unparalleled in its complexity. […] Here, as well was directing, he has also produced, written, set and constume-designed, and edited a mesmerising tale that fuses the ceremonial legends of the past with contemporary life. Tara, a strong-willed widow encounters the fleeting ghost of an ancient warrior in the forest next to her village. The ghost’s appearances become more frequent and finally he talks to her, claiming a sword that she has found among her father’s effects. Without the sword, the dead warrior can’t rest. But when the sword is restored to him, it’s his love for Tara that prevents him from returning to the land of the dead“ (Khoshbakht im Programmheft). Zum Verbot des Films im Iran führte weniger der politische Symbolgehalt als die Frauenfigur, die begehrt wird aber ihr Schicksal zugleich selbst in die Hand nimmt. Der Film lief daher nur ein einziges Mal offiziell, 1980 beim Festival in Cannes. Im Film findet eine Ta’zieh-Aufführung statt, eine Art schiitisches Passionsstück, in dem die Leiden des Imam Hossein dargestellt werden. Das ist ein Bezug, ein anderer ist einmal mehr Kurosawa: Beyzaies Film könne als „feminist take“ von dessen Filmen gelesen werden, so Khoshbakht. Tara, greift, nachdem sie die Männer in ihrem Leben verloren hat (den Ehemann und dann auch den Geist des Kriegers) selbst zum Schwert und definiert ihr Frausein neu – am Ende ficht sie mit dem Ozean, was auch eine Brücke zu „Gharibe va meh“ darstellt. Zwei unfassbar tolle Filme!

Am Nachmittag schlenderte ich dann durch die zweite Runde von „Bologna Fotografata: persone, luoghi, fotografi“ in der Sottopasso Re Enzo (einer vergessenen Strassenunterführung, direkt neben der Piazza Maggiore, in der die Cineteca grössere Ausstellungen veranstaltet, letztes Jahr gab es dort einen superbe Pasolini-Ausstellung, dieses Jahr eine zweite Schau mit Fotografien aus Bologna (von der erste hatte ich mal den Katalog gekauft, sie fand 2017 statt). Dazu gab es dort auch ein paar Räume mit sehr ansprechenden poetischen Zeichentrickfilmen von Stefano Ricci – aber angesichts all der Filme, die ich an den Tagen anschaute, mochte ich mich darauf nur punktuell einlassen.

In der ersten Abendvorstellung gab es dann ein letztes Mal Kinugasa: YOSO (Teinosuke Kinugasa, JP, 1963). Sein zweitletzter Film (und der letzte in alleiniger Regie) ist das, und den fand ich unerwartet toll, nicht bloss aus formalen Gründen. Im Breitformat und in bestechendem Schwarzweiss gedreht, spielt der Film zu weiten Teilen im Palast der Kaiserin Koken (718-770 – gleiche Epoche also wie „Daibutsu kaigen“), die unter Schmerzen leidet, die die hohe Geistlichkeit nicht wegbeten kann. Zwischen 758 und 764 hatte Koken abgedankt und wurde in dieser Zeit, wie es heisst, von einem „miracle-worker monk“ namens Dokyo geheilt – und es hielten sich Gerüchte über eine romantische Beziehung der beiden. Davon – aber am Hof, ohne dass die Kaiserin abdanken würde – handelt der Film, Dosyo wird protegiert, erhält immer mehr Macht am Hof, was wiederum Intrigen heraufbeschwört, erst recht, da er sich als sozial ausgibt, der Kaiserin der Kaiserin von der Armut der Menschen in ihrem Reich erzählt. Die jüngeren niedrigen Beamten sympathisiern mit dem Eindringling, die Minister wollen ihn ermordern. Der geometrisch klar angelegte Palast, die ständig durch vertikale Linien – eine Art Zäune – getrennten Innen- und Aussenräume erlauben wahnsinnig dichte, komplett durchgestaltete Bilder, auch die Möbel am Set fügen sich ein in diese Vertikale – die eben stets in epische Breitformat eingepasst ist. Bestes Kino auf jeden Fall, ein Film, der allein mit seinen Bildern die Geschichte erzählt hätte, auch wenn es keine erklärenden Untertitel gegeben hätte. Nachdem ich von Kinugasa bis dahin nur die Stummfilme richtig toll gefunden hatte, eine eher unerwartete Versöhnung zum Abschluss.

Vor der letzten Runde machte ich einen Spaziergang u.a. zum Geburtshaus von Pier Paolo Pasolini, an dem ich jedes Mal in Bologna vorbeispaziere – es liegt auch gut, wenn man zum Komplex der „sette chiese“ will, einem der bezauberndsten Orte in der Stadt. WE LIVE AGAIN (Rouben Mamoulian, US, 1934) machte den Ausklang – netterweise kein Regen an dem Abend, sonst wäre die Vorstellung (wie die von „Peter“ ein paar Tage zuvor gestrichen worden zu Gunsten von der restaurierten Version von Bertoluccis „The Dreamers“, der auf der Piazza gezeigt wurde. Den Film fand ich dann allerdings als einzigen aus der Mamoulian-Reihe etwas enttäuschend (vgl. Mamoulian-Post). Im Rückblick hätte ich wohl besser versucht, doch noch in einen der Special Events reinzukommen, die zeitgleiche Vorführung von Joe Dantes „Gremlins“ mit Einführung von Dante selbst (für die ganzen Special Events, bei denen auch „All the Beauty and the Bloodshed“ von Laura Poitras mit Anwesenheit von Nan Goldin dabei war, waren die im Voraus reservierbaren Plätze schon weg, als ich bemerkt hatte, dass man buchen konnte).

Der letzte Tag, Sonntag (2. Juli) ist jeweils entspannter: ein grosser Teil der Festivalbesucher*innen ist abgereist und es gibt nur in einem der grossen Kinos Vorstellungen (das mit dem besten Blick auf die Leinwand aber leider auch das mit der schlechtesten Lüftung), dem Arlecchino (mein Lieblingssaal ist das Jolly, dort wird es v.a. bei unterhalb der Leinwand projizierten Untertiteln allerdings manchmal selbst für grosse Leute wie mich schwierig, alles sehen zu können). Die morgendlichen Vorstellungen liess ich aus, weil ich noch ins MAMbo wollte, das Museum für Moderne Kunst, das im gleichen ehemaligen Industrieareal liegt wie das Cinema Lumiere der Cineteca. Es gab dort aber ausgerechnet auch wieder eine Film-Ausstellung, „Yvonne Rainer: Words, Dances, Films“, bei der u.a. vollständige Spielfilme liefen, aber auch diverse kurze Experimentalfilme der 1934 geborenen Tänzerin, Choreographin und Filmemacherin, die sich u.a. an der Martha Graham School ausbilden liess (siehe oben „The Flute of Krishna“ von Mamoulian). Das war entsprechend eine Ausstellung, in der man einen halben Tag hätte verbringen können (das Ticket hätte auch einen zweiten Einlass gestattet – gute Idee, die ich hierzulande noch in keinem Museum jemals sah!), aber klar: das beisst sich mit dem Besuch des Filmfetivals. In den Sammlungsräumen gab es eine kleine Schau von Muna Mussie, „Muna Mussie. Bologna St. 173, Un Viaggio a Ritroso. Congressi et Festival Eritrei a Bologna“, mit Kunstgegenständen, Fotos, Plakaten, Flyern und Dokumenten rund um die im Titel erwähnten Veranstaltungen. Durch die mir bekannte Sammlung bin ich nur durchgeschlendert, aber den Teil des Museums, der den Werken von Giorgio Morandi gewidmet ist, besuche ich auch stets gerne (bis 2012 war das Morandi-Museum im Palazzo d’Accursio untergebracht, wo auch Teile der Stadtverwaltung residieren, nach dem Erdbeben wurde es ins MAMbo verlegt).

Auch ohne die beiden vormittäglichen Vorstellungen („Macario“ von Robert Gavaldon, 1960 und „Rysopis“ von Jerzy Skolimowski, 1964) gab es noch ein doppeltes Double Feature, also vier Filme als Endspurt, aufs Open Air auf der Piazza verzichtete ich danach („The Straight Story“ von Lynch, 1999, auch davon lief eine restaurierte Version, der jüngste restaurierte Film war Lynchs „Inland Empire“ von 2006, andere aus den letzten Jahren umfassten „The Pianist“ von Polanski, 2002, und „Il dono“ von Michelangelo Frammartino von 2003).

Los ging es um 14:15 Uhr mit ONE WAY PASSAGE (Tay Garnett, US, 1932), einer bittersüssen Liebeskomödie, die noch einmal die Möglichkeiten des Pre-Code-Hollywood-Films aufzeigte. William Powell spielt einen zum Tod Verurteilten, der sich vom ihn überführenden Polizisten für die Überfahrt von Hong Kong nach Kalifornien ausbedingt, dass er die drei oder vier Wochen auf dem Schiff ohne Handschellen reisen darf. Er lernt eine todkranke Frau kennen (Kay Francis), die beiden verlieben sich, entwickeln ein Ritual, um die Flüchtigkeit des glücklichen Moments zu zelebrieren: nach einem gemeinsamen Drink zerschlagen sie jeweils ihre Gläser. Beim Zwischenhalt auf Hawaii hätte die Figur von Powell die Möglichkeit, zu entkommen – er ist immerhin unterwegs in die Death Row – doch die Liebe siegt, der Brief, den er ihr hinterlegt hatte, verschwindet wieder in seiner Innentasche. Auf dem Schiff treiben sich weitere Betrüger und Hochstaplerinnen herum, man kennt sich (ausser die Figur von Kay Francis, die damit nichts zu tun hat), es kommt zu zahlreichen komischen Szenen, doch was bleibt ist die mit feinem Strich skizzierte, zerbrechlich-zarte und sehr berührende Liebesgeschichte. Die Schlusseinstellung: zwei Gläser werden im Close-Up auf einem Tresen zerbrochen – die beiden Liebenden weilen nicht mehr unter uns. Eine Träne, klar.

An zweiter Stelle (dazwischen immer ein Gang um den Block, um den QR-Code auf dem Festivalpass wieder scannen und sich den reservierten Sitz mitteilen zu lassen – letztes Jahre konnte man zwischen den Vorstellungen noch drin bleiben, den Platz kriegt man bei Online-Buchung auch stets 75 Minuten vor Beginn er E-Mail mitgeteilt, quasi als Einzelkarte, mit der man ohne den Pass auch reinkommen würde) folgte der letzte Film von Mamoulian LOVE ME TONIGHT (Rouben Mamoulian, US, 1932). Und das war noch einmal ein grosses, vollständig durchchoreographiertes Vergnügen, über das ich im Mamoulian-Post auch schon ein paar Zeilen geschrieben habe. Lustig, dass ich direkt nach William Powell die bezaubernde Myrna Loy sah, die hier eine „man-hungry“ Gräfin spielt. Im Film darauf hätte dann eigentlich gerechterweise Asta auftreten sollen – aber das war leider nicht der Fall.

Als nächste hatte ich „Il Ferroviere“ (Pietro Germi, IT, 1956) erwartet, doch es folgte der Film, der dem diesjährigen Festival sein Gesicht verlieh und der bei einer wegen Regen abgesagten Vorstellung ausgefallen war (er lief inzwischen – nach dem Festival – auch noch selbst auf der Piazza, falls es nicht wieder geregnet hat): QUIÉN SABE (Damiano Damiani, IT, 1966). Ich kam also doch noch in den Genuss des bad-ass Southern, in dem eine Gruppe mexikanischer Banditen um El Chuncho (Gian Maria Volonté) einen Banditen, der allmählich zum Revolutionär wird – und sich von einem suaven Yankee (Lou Castel) als Lockvogel für die Ermordung eines Generals der Revolutionstruppen ausnutzen lässt. Zum Trupp von El Churro gehören auch die schöne Adelita (Martine Bewsick) und sein Bruder, der es mit der Religion hat (Klaus Kinski in einer Paraderolle). Das machte natürlich grossen Spass und war auch insofern interessant, als die Figuren stets etwas undurchsichtig bleiben – so bringt El Churro am Ende – als alle anderen tot oder aus dem Film gefallen sind – den Yankee um, ohne dass er sagen kann, weswegen er das tut. Er weiss allerdings, dass er es tun muss. Luis Bacalov hat einen passenden Soundtrack geschrieben und es gibt viele tolle Bilder aus kargen Landschaften um Alméria (der Plan, tatsächlich in Mexico zu drehen, erwies sich als nicht umsetzbar). Gesprochen wird eine wilde Mischung aus Italienisch, Spanisch und manchmal Englisch.

Zum Abschluss gab es dann eine restaurierte, 72minütige Version von FEAR AND DESIRE (Stanley Kubrick, US, 1953) – ein existentielles Kammerspiel um vier Soldaten, die hinter den feindlichen Linien abgestürzt sind und sich wieder auf ihre Seite durchschlagen wollen. Sie bauen ein Floss, werden von einer Einheimischen entdeckt, die sie gefangen nehmen und später eher versehentlich töten, entdecken dann einen Aussenposten des Gegners – und auch wenn das wohl im Koreakrieg spielen sollte, sehen die Gegner genau so aus, wie „unsere“ Soldaten. Der Clou: zwei der Darsteller des Vierertrupps spielen auch den feindlichen General und seinen Offizier – sie töten sich damit dann quasi – im raffinierten Gegenschnitt – selbst. Ein Antikriegsfilm, der gerade deshalb so eindringlich ist, weil er überall und nirgends spielt. Beim Wiki-Eintrag ist die übliche einstündige Version des von Kubrick am Ende zurückgehaltenen Filmes zu finden, ebenso die Sätze, mit denen der Film aus dem Off beginnt: „There is a war in this forest. Not a war that has been fought, nor one that will be, but any war. And the enemies who struggle here do not exist unless we call them into being. This forest then, and all that happens now is outside history. Only the unchanging shapes of fear and doubt and death are from our world. These soldiers that you see keep our language and our time, but have no other country but the mind.“ Die in Bologna gezeigte Version tauchte vor kurzem in der Library of Congress auf, sie lief 1952 unter dem Titel „Shape of Fear“ beim Festival in Venedig und kam dann in die Kinos, bis Kubrick dem Film 1953 zurückzog. Sie wurde von der LoC zusammen mit Kino Lorber, die 2012 die einstündige Fassung erneut herausgebracht hatten, restauriert.


Und dann ging’s wieder heim … mit im Gepäck nicht nur der Festival-Katalog sondern auch der Band über Albert Samama Chikli – ein dickes, sehr schön gestaltetes Buch, das freundlicherweise (im Gegensatz zu den meisten Publikationen der Cineteca, mal von den Festivalprogrammen abgesehen) vollständig zweisprachig (it/en) herausgebracht wurde. Eine kleine Broschüre war geplant, als erstes Produkt der Aufarbeitung des Chickli-Archivs, doch daraus wurde dieser prächtige, reich bebilderte Band.

Ich hätte wirklich gar nichts dagegen, wenn sich der Besuch des Festivals als jährliche Tradition etablieren würde …

Die Veranstaltungen („Cinema Lessons“), Referate über Restaurationen („Case Studies“) und mehr werden jeweils auch aufgezeichnet, hier findet man die Liste der Veranstaltungen von 2022 (und ganz unten auch die Links zum Katalog und dem Programm):
https://festival.ilcinemaritrovato.it/en/archivio/2022/

Ansteuern kann man das Archiv über die „Film Database“ oben im Menu. So sollten das alle Festivals und Veranstalter mit den Infos zu vergangenen Veranstaltungen handhaben!

Finis

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Ein PS noch: neben den Special Events habe ich leider vollständig verpasst: die „Powell Before Pressburger“-Reihe, die dt. Exilkomödien von 1934-36, die russischen Diven in Italien, die kleine Elfi Mikesch-Reihe, die Lindtberg-Reihe (da der Anlass dazu das 100. der Präsensfilm 2024 ist, rechne ich mit eine Retro in Zürich, die ich dann verpassen werde, weil ich nie Zeit habe) und die Reihe mit Filmen von Anna Magnani (bei italienischen Filmen kann es wohl ganz selten vorkommen, dass es keine Untertitel – auch keine digital eingeblendeten – gibt, die Angaben im Voraus sind nicht immer komplett, aber in der Regel gibt es *mehr* Untertitel als im Voraus angegeben). Und einige Meisterwerke von Renoir, Lubitsch, Hitchcock usw. in der Reihe „Restored and Recovered“. Aber bei dem irren Angebot geht das halt nicht anders und ich habe mich im Zweifelsfall stets für die Rarität entschieden, davon ausgehend, dass z.B. die Filme von Magnani immer mal wieder gezeigt werden.

Ein paar Sachen verpasst zu haben bedaure ich aber wirklich, so „Ciné-Guerillas: Scenes from the Labudovic Reels“, Sembènes „Ceddo“ und „Concerto pour un exil“ (Derié Ecaré, Elfenbeinküste/FR, 1968 – der lief beim anderen Screening von „Bushman“ als Vorfilm) und „Al-Makhdu’un“ (Tewfik Saleh, Syrien, 1972) in der Cinemalibero-Reihe, zudem einige restaurierte Filme, besonders „Ishanou“ (Aribam Syam Sharma, Indien, 1990 – der oder die Kurzfilme von Joyce Wieland).

Egal. Was für ein Glück, dieses Festival! Es ist wie geschaffen für mich.

(zu Teil 2 / zum Post zu Rouben Mamoulian)

Il Cinema Ritrovato, Bologna, 24 June - 2 July 2023 - XXXVII edizione (2/3)

 

Dienstag 27. Juni, Tag drei, begann mit einem Highlight: BUSHMAN (David Schickele, US, 1971). Ein recht kurzer Film (73′), der gleich mit einer unsterblichen Sequenz beginnt: Gabriel, die Titelfigur, mit der wir durch den Film gehen, geht barfuss mit seinen Converse auf dem Kopf eine Strasse entlang, dreht sich hie und da um, um Autostopp zu machen. Dazu Yoruba-Trommeln, die sich mit einem Cembalo-Stück von Henry Purcell mischen. Der Film geht der Identität von Gabriel nach, dem „Bushman“, der in die USA gekommen ist, um zu unterrichten. In Flashbacks und Gegenüberstellungen wird seine Geschichte skizziert – stets in eindringlichen Bildern, die nicht vieler Worte bedürfen. „With one eye on cinéma vérité, the European new waves and early Cassavetes, and the other on African pioneers like Sembène, Ecaré and Hondo, Schickele not only condemns the reactionary and racist America which will later frame Gabriel on the slightest of pretexts, but also the liberal America of progressive intellectuals who quote McLuhan and Malraux but lapse into rhetoric and misunderstand the deeper meaning of human experience. With irony, poetry and a delicate touch, Bushman leads us into the darkness of the beginnings of an odyssey“ (Cecilia Cenciarelli im Programmheft). So ein Film um 9:15 und der Tag ist eh schon grossartig … Gabriel heisst in Wahrheit Paul Eyam Nzie Okpokam. Bei Protesten auf dem Campus (San Francisco State College) wird ihm was untergejubelt, er kommt in Ausschaffungshaft und wird nach einem Jahr oder noch länger in Haft abgeschoben – ohne dass der Film zu Ende gebracht werden konnte. Gedreht wurde er 1968, fertiggestellt 1971 mit einer Coda, in der dieses letzte „Kapitel“, das schmerzhaft real ist, auch noch erzählt wird. Die neben dem Einstieg tollste Sequenz ist irgendwo mittendrin zu finden, Paul läuft mit einem Stück Baumstamm durch die Gegend, nimmt diesen überall hin mit. Einprägsame, umwerfende Bilder, die nicht vieler Worte bedürfen. Aber das sagte ich ja schon.

CORTILE CASCINO (Robert M. Young/Michael Roemer, US, 1962) und FACES OF ISRAEL (Michael Roemer, US, 1962) gab es danach, nebst einer langen Einführung durch Goffredo Fofi, der einst als junger Aktivist selbst ein Jahr im Cortile Cascino lebte, tagsüber den Kindern, abends ihren Eltern Lesen und Schreiben beibrachte, sich auch – ohne jegliche Ausbildung – um medizinische Grundversorgung kümmerte. Fofi hat später u.a. Texte von Buñuel herausgebracht und auf dessen Frage, welchen seiner Filme er am liebsten mochte, „Los olvidados“ genannt – und nachgeschoben: aber in Palermo hätte es ein Viertel gegeben, in dem es noch viel schlimmer gewesen sei. Das war Cortile Cascino, wo Roemer/Young 1962 ihren 46′-Film drehten, im Auftrag der NBC, die dann aber so schockiert vom Ergebnis war, dass die Ausstrahlung abgesagt, die Negative vernichtet, Young gefeuert wurde. Überlebt hat der Film dank einem NBC-Mitarbeiter, der an die Verdienste des Filmes glaubte. Jedenfalls ist es unglaublich, diese Bilder zu sehen. Ein Ort im Nachkriegseuropa, an dem vom Wirtschaftswunder nichts zu sehen war. Und natürlich hatte auch hier die Mafia das Sagen: selbst bei Elendesten gibt es noch etwas zu holen, Märkte, Friseursalons oder illegale Schlachthöfe zu kontrollieren, Glücksspiel – und selbst die Konzessionen für Begräbnisse. Wenn ich das richtig erinnere, reichte die Aufregung um den wie gesagt gar nicht ausgestrahlten Film (er wurde Auszugsweise 1993 im Film Children of Fate: Life and Death in a Sicilian Family veröffentlicht) aus, um das Viertel dem Erdboden gleich zu machen und die Menschen von dort zu vertreiben. Dass Fofi dabei war – und auch die Protagonist*innen des Films teils persönlich kannte – gab dem ganzen nochmal eine völlig andere Dimension. Für den Bilderreigen von „Faces“, einem lyrischen Montage-Film, wie man ihn auch von Chris Marker kennt, und jetzt ganz ohne die bei „Cortile“ erzwungenen Voiceovers, hatte ich danach leider nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig – aber klar, mit Fofi im Saal wäre es auch seltsam gewesen, diesen zuerst zu zeigen. Und vielleicht war die Idee auch, dass nach dem erschütternden Elend ein paar hoffnungsvolle Bilder gut tun würden? Jedenfalls tat es mir leid, dass ich dem Film unter den Umständen schlicht nicht gerecht werden konnte.

Am Nachmittag sah ich zwei Dokumentarfilme im DAMSlab, dem erwähnten Raum, der eher einem Hör- als einem Kinosaal gleicht. DOROTHY ARZNER, UNE PIONNIÈRE À HOLLYWOOD (Clara Kuperberg, Julia Kuperberg, FR, 2023) ist der Abschluss der Filmreihe, die die Kuperberg-Schwestern über die Pionierinnen Hollywoods machten – sagten sie zumindest bei der Einführung, denn es gäbe nun keine weiteren, sie hätten über sie alle einen Film gedreht. Das war ein ansprechender Film, wie ich ihn gerne mal bei arte gucken würde … vor allem machte er mir aber grosse Lust auf die Filme von Arzner, von denen ich noch keinen einzigen kenne.

Im Anschluss folgte ANTONIA: A PORTRAIT OF THE WOMAN (Judy Collins, Jill Godmilow, US, 1974) – und der wiederum war sehr toll. Antonia Brico, die Dirigentin und ebenfalls Pionierin (u.a. als erste Frau am Pult der Berliner Philharmoniker, 1930), war mir kein Begriff. Ihre „Karriere“ ist eher die Abwesenheit einer selbigen – sie war ja schliesslich eine Frau. Ein faszinierender Einblick in das Schaffen, Denken, Fühlen einer Person, die als Künstlerin kompromisslos und wahnsinnig engagiert war – aber mit all ihrer Energie jahrzehntelang nirgendwohin konnte, weil sie eben fast keine Engagements kriegte. Der Film scheint das etwas gebessert zu haben, aber das bezog sich dann nur noch auf die letzten paar Lebensjahre.

Danach gab’s mein erstes Kinugasa-Highlight: JUJIRO (Teinosuke Kinugasa, JP, 1928), wieder mie Einführung von Alexander Jacoby und Johan Nordström, und mit Donald Sosin am leidigen digitalen Klavier (ich schreibe „Klavier“ und nicht „Synthesizer“ oder „Keyboard“, weil das Ding wie eine Art kleiner Stutzflügel aussieht). Der Film ist nach „Kurutta ichipeiji“ (s.u.) der zweite avantgardistische Film von Kinugasa – dazwischen hat er 19 Filme in 19 Monaten, meist „chanbara“ (Actionfilme) – und er beschrieb „Jujiro“ später als „chanbara without swordfights“. Das recht gradlinig erzählte Melodram über einen unglücklich in eine Kurtisane verliebten jungen Mann und seine aufopfernde Schester kommt als grosses expressionistisches Drama voller unfassbar starker Bilder, Licht- und Schatteneffekte und ungewöhnliche Kameraeinstellungen daher. Auch die Kulissen können sich sehen lassen: das Gebäude, in dem Bruder und Schwester wohnen, hätte auch in einen Film des deutschen Expressionismus gepasst (ist aber weniger kantig), die späteren Aussenszenen (die natürlich alle nicht draussen gedreht wurden) verraten, woher das seltsame Setting von „Yukinojo Henge“ kommt.

Zum Ausklang des Tages wollte ich einen einzigen Film aus der Reihe der dt. Exilkomödien sehen, Hermann Kosterlitz‘ „Peter“ aus dem Jahr 1934 – doch leider hat es an dem Abend geregnet und die Open-Air-Vorstellung von der Piazza wurde in drei Kinos statt der dort geplanten Filme gezeigt. Schlimm war das nicht, denn den Film, den ich zu sehen kriegte, hatte ich am nächsten Morgen wegen drohenden Overkills schon gestrichen – und kriegte ihn auf dem Umweg halt doch noch zu sehen: BIRUMA NO TATEGOTO (Kon Ichikawa, JP, 1956). Der Film handelt von japanischen Truppen, die 1945 in Burma stationiert sind, als das Kaiserreich kapitulierte. Die Truppe, zu der auch Mizushima gehört, ergibt sich – nach einer irren Szene, in der sie sich für belagert hält und von britischen Truppen umzingelt wird – beide Seiten singen dabei lauthals im Chor, die Japaner auch, um geplante Verteidigungsmassnahmen zu vertuschen. Mizushima, der sich in der Zeit in Burma das Spiel der Harfe beigebracht hat („Die Harfe von Burma“ ist der dt. Alternativtitel), meldet sich freiwillig, um eine andere japanische Truppe zur Kapitulation zu überreden, die in einem Berg verschanzt zum letzten Gefecht bereit ist. Er zieht los, scheitert, wird beim Sturm der Briten verletzt, von einem Mönch versorgt – und zieht dann selbst als Mönch durch das Land, sucht die Nähe vom Gefangenenlager, in dem seine Freunde aus der Truppe einsitzen, reagiert jedoch nicht, als diese ihn (zu) erkennen (glauben). Als sie nach Hause dürfen, schreibt er dem Kommandanten einen Brief, dass er im Land bleibe, um der vielen toten Japaner zu gedenken, die überall herumliegen – apokalyptische Bilder gibt es auf seinen Wanderungen immer wieder zu sehen, und so wird aus dem Film, der als spannender Kriegsfilm beginnt, ein eindringlicher Antikriegsfilm (gezeigt wurde die 116minütige Einteiler-Version in einer Restauration von 2022).

Am Mittwoch (28. Juni) bin ich dann erst auf die 11-Uhr-Vorstellung ins Kino, mit GOLDEN BOY (Rouben Mamoulian, US, 1939) zum Einstieg. Wo ich eine ganze Menge Pre-Code-Filme zu sehen kriegte (nicht nur von Mamoulian) drängt sich ein wenig die Frage auf, wie der Film wohl ausgesehen hätte, wenn er von 1932 statt von 1939 wäre. Die (verhinderte) Liebesgeschichte zwischen dem mittelmässigen Musiker, der zum Boxer wird (William Holden) und Barbara Stanwyck, die das love interest seines zynischen Managers (Adolphe Menjou) spielt, hätte wohl einiges offenherziger erzählt werden können. Doch auch so ist das ein klasse Film, den eigentlich Frank Capra hätte drehen sollen, während Mamoulian für „Mr. Smith Goes to Washington“ vorgesehen war. Doch es kam genau umgekehrt. Das Drehbuch basierte auf einem Stück des linken Autors Clifford Odets von 1937, Mamoulian überwachte selbst die Anpassung, in deren Rahmen die politischen Aspekte wegfielen bzw. weniger wichtig wurden, dafür Humor und Ironie dazukamen. Die Charaktere von Holden und Stanwyck sind beide nicht klar festgelegt: er schwankt zwischen seiner Brutalität als Boxer und der Empfindsamkeit als Musiker, sie weiss nicht, ob sie den harten Boxer oder den Musiker liebt. Am Ende – nachdem er seinen Manager durch einen Mobster eingetauscht hat – tötet er unbeabsichtigt einen Gegner im Kampf – und hört zu Boxen auf. Ob es da schon zu spät ist, lässt der Film offen. Von Holden habe ich glaub ich noch keinen so frühen Film gesehen – er überzeugt in der Rolle unbedingt, aber die Glanzlichter setzt Stanwyck mit ihrer so ambivalenten, zynischen Figur.

Der Nachmittag gehörte dann Albert Samama Chikli (1872–1933), einem tunesischen Regisseur, Photographen, Technikfreak, Abenteurer, Radrennfahrer und ganz allgemein Kino-Pionier. Geboren in eine wohlhabende jüdisch-tunesische Familie, der Vater Bankier des Bey und Gründer einer Bank, aus der später die Bank of Tunisia wurde. Der Nachlass von Chikli wurde von den Erben der Cineteca Bologna übergeben, um 15’000 Fotos und 4’000 Dokumente, und mit der Aufbereitung dieser Bestände konnte auch Filme als von oder mit Chikli identifiziert werden. Im ersten Programm wurden zunächst Dokumentarfilme und Newsreels aus den Gaumont- und Pathé-Archiven gezeigt (FR/IT/TN, 1911-1930), dann folgte [EN MARGE DU FILM ‚LES CONTES DES MILLES ET UNE NUITS‘], ein halbstündiger Spielfilm, dessen Herkunft noch nicht geklärt ist. Vermutlich entstand er als Nebenprodukt der Dreharbeiten zum genannten Film, bei dem – das haben die Forschungen in Bologna zum Vorschein gebracht – Chikli als einer von zwei Kameramännern und als Kontakt vor Ort in Tunesien mitwirkte. Mariann Lewinsky, eine der vier Leiter*innen des 2023er-Festivals und Herausgeberin des neuen Buches über Chikli, schreibt: „What might have been the purpose of this short film? Was it ever released? Or rather shot by the Ermolieff cast and crew [die „Les Contes de Milles et une Nuits“ produzierte] as an elaborate private souvenir of their stay in Tunisia? It is marvellous to see Albert Samama acting, and devastating how in this innocent little film, his destiny in the context of the 1920s is laid bare, involuntarily. Tunisia is reduced to serve as location for international productions and the Tunisian filmmaker relegated to the role of a servant.“ Stephen Horne sorgte – in einem er Säle der Cineteca mit einem richtigen Klavier – für eine hervorragende Begleitung.

Im Anschluss gab es auch LES CONTES DES MILLE ET UNE NUITS (Viatcheslav Tourjansky, FR, 1921), den 70minütigen Spielfilm, an dessen Rand der davor gezeigte Kurzfilm entstanden ist – mit Matti Bye am Klavier und Eduardo Raon an der Harfe, wobei letztere selten konventionell gespielt wurde und einige an Elektronik zum Einsatz kam. Dass Chilkli eben als Kameramann und Koordinator in Tunesien (der Film wurde als Dreiteiler produziert – eben von Ermolieff, die sich 1922 in Albatross umbenannten – , überlebte aber nur in einer verkürzten Version, wie sie in den USA distribuiert wurde) konnte erst 2022 durch den Fund eines Zeitungsausrisses von 1921 im Nachlass bestätigt werden: „Cameramen were Mr. Leclerc, a veteran camera operator for Pathé, and Mr. Samama-Chikli, who has been of great help to all of these screen artists“). Im Gegensatz zum Kurzfilm, der völlig ohne Zwischentitel auskommen und perfekt funktioniert (der Plot ist auch recht simpel), sind „Les Contes des Mille et une Nuits“ ein elaboriertes Produkt: Karawanen, Paläste, Kostüme, Reichtümer, natürlich die Geschichte in der Geschichte … die Begleitung passte sehr gut, und die Exotica haben durchaus ihren Charme.

Dann ging’s wieder rüber in den Vorlesungssaal, in dem DOWN AND OUT IN AMERICA (Lee Grant, US, 1986) gezeigt wurde. Im Lauf des Films habe ich mich mehrmals gefragt, ob ich den Film nicht bereits gesehen habe? Vermutlich nicht, aber die Szenen auf dem Land bei den protestierenden Farmern, die ihr Häuser, ihren Fuhrpark, ihr Land unter Wert verkaufen müssen, weil die Banken ihnen keinen Kredit mehr gewähren, kamen mir sehr bekannt vor. Ein deprimierender Film, in dem es zudem um die Wohnungsnot in den Grossstädten geht, wie Obdachlose in New York in „Hotels“ versorgt werden, wie sie quasi zum Produkt einer profitablen Wohlfahrtsindustrie gemacht werden, völlig entrechtet und jeglichen Handlungsspielraums beraubt. Ein Projekt in San Francisco, eine Art autonome Siedlung auf einem Parkplatz (von dessen Besitzer toleriert), wird natürlich plattgemacht, geräumt, komplett zerstört – denn dass diese Menschen sich Handlungsmacht zurückerobern, ist nicht vorgesehen. Und ich befürchte, das ist in den westlichen Ländern bis heute genau so – der letzte Skandal über grosse Profite, die private Vermieter mit Gammelliegenschaften, in denen unter unhaltbaren Zuständen im Auftrag (aber ohne Kontrolle) der Obrigkeit Randständige einquartiert werden liegt in Zürich z.B. nur wenige Jahre zurück. Heftig fand ich besonders die Schlussszene, in der eine Familie auf einem Pier in Coney Island sitzt und Grant sich einmischt: ob die Situation (die Wohnung brannte aus, sie wurden in ein Gammelhotel umquartiert, die Wohnung später renoviert und neu vermietet, aber natürlich nicht an sie, denen nach dem Brand gar nichts geblieben ist) ihre Beziehung verändert habe, will sie wissen. Und dann scheint etwas zu passieren, eine Reflektion, eine Klarheit, die einen möglichen Bruch durchaus denkbar macht – eine Reflexion, wie sie eben ohne Grants Eingreifen vielleicht nicht stattgefunden hätte. Ähnlich wie in „Cortile Cascino“, wirft das Eingreifen der Filmemacher*innen grosse ethische Fragen auf (die nur Michael Moore, der moralische Sauhund, für sich so eindeutig beantworten kann, befürchte ich – reflektiertere Menschen könnten an diesen Fragen eher zerbrechen als sie beantworten).

Dass es danach eine lange Pause gab und einen leichteren Film in der Spätvorstellung, passte dann sehr gut: CITY STREETS (Rouben Mamoulian, US, 1931) machte den Ausklang dieses Tages, ein Gangsterfilm, in dem die Hauptdarstellerin Nan einsitzt, weil sie ihren Vater nicht verraten will (der ihr die versprochene Hilfe nicht bieten kann). Der Schiessbuden-Sharpshooter The Kid verliebt sich in Nan, lässt sich während ihres Gefängnisaufenthaltes auf die Bootlegger-Geschäfte von deren Vater ein. Die Bildsprache des Filmes ist einmal mehr voller Überraschungen: Kameraarbeit (Lee Garmes) zwischen Dokumentarfilm und Expressionismus mit viel Dunkelheit und Schatten, die Erzählweise wirkt oft Fragmentarisch, Objekte und Bewegungen werden zur Metapher: vom Schaum in einem Bierglas wird zu zu einer Bierflasche geschnitten, zu einem Wasserstrom, zu Wassertropfen. Es gibt aufgeladene Close-Ups (wenn Sylvia Sidneys Nan sich an die Vergangenheit erinnert), Assoziationen, bei denen Gegenstände, die Mise-en-Scène zum zentralen Bedeutungsträger werden. Eins meiner Mamoulian-Highlights, zweifellos.


Am Donnerstag 29. Juni hatte ich dann wieder ein volles Programm. Los ging es um 9:15 mit RINGS ON HER FINGERS (Rouben Mamoulian, US, 1942), eine leichtfüssige Romanze mit Zügen einer Screwball-Komödie (was aber letztlich wegen Gene Tierney nicht recht klappen will). Tierney, die naive Lingerie-Verkäuferin im Warenhaus wird von einem paar abgebrühter Hochstapler rekrutiert. Sie fassen Henry Fonda ins Auge, dessen Figur: ein Mann mit dem gewissen „Wall Street tan“. Dieser will mit seinem ganzen Ersparten ein Schiff kaufen – das natürlich jemand anderem als den Hochstaplern gehört, die es ihm verkaufen und verliebt sich dabei blöderweise unsterblich in Tierneys Figur. Die beiden verlieben sich tatsächlich, es wird klar, dass er nur ein kleiner Angestellter ist. Der Film hat einen guten Flow, ist elegant, fröhlich und voll mit typischen Mamoulian-Motiven (Beine, Lingerie, Mannequins) und -Themen (vertauschte Identitäten, Transformationen, Role-Playing). Das Skript ist allerdings sehr wortreich, Tierney als comédienne wie gesagt eher limitiert. Fonda glänzt dafür umso mehr und auch die Nebenrollen (der skurrile Detektiv, die Betrüger) sind super.

Einmal um den Block und wieder in die Schlange gestanden für den nächsten Mamoulian: BLOOD AND SAND (Rouben Mamoulian, US, 1941), ein Jahr früher aber in Farbe gedreht, um nicht zu sagen: gemalt. Im Mamoulian-Post schrieb ich zu „Blood and Sand“ schon ein paar Zeilen, die ich jetzt einfach nochmal kopiere:

In manchen Filmen arbeitet Mamoulian wie ein Maler. „Blood and Sand“ von 1941 über den Aufstieg und Fall eines Toreros ist das beste Beispiel dafür. Goya, Velázquez oder El Greco hat Mamoulian studiert und setzt ihre Kunst um, inszeniert Tableaux des Begehrens, der Verführung, des Todes, mit Hilfe seiner Kameramänner Ernest Palmer und Ray Rennahan, die für ihre Technicolor-Arbeit mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Mamoulian erzählte später in einem Interview (Sight & Sound Nr. 3, Sommer 1961), wie er gearbeitet hatte. U.a. habe er stets eine riesige Kiste mit Schals, Taschentüchern etc. in allen möglichen Farben dabeigehabt, um damit bei den Kostümen jederzeit Farbakzente setzen zu können. Und er hatte eine ganze Batterie von Sprühpistolen, mit denen er die Sets, die Kostüme oder sogar die Darsteller*innen im Bedarfsfall ansprühte. „The art director had made me a beautiful chapel; and he was very upset when I sprayed everything with green and grey paint. Then again, there’s a banquet, which was done entirely in black andd white. There were flowers on the table and (naturally) the leaves were green. I think when they saw me painting them black, they went and told Mr Zanuck I’d gone out of my mind.“

Eine Geschichte um Traum und Wirklichkeit, um Aufstieg und Fall, um Mann und Frau.

Nach der Mittagspause sah ich einen ganz bezaubernden Film: MAN’S CASTLE (Frank Borzage, US, 1933). Der Film wurde gerade restauriert und lief in einer 78minütigen Version, für die soweit möglich der (Vor-)Zensur zum Opfer gefallene Szenen wiederhergestellt wurden (mehr dazu dann im dritten Post). „Man’s Castle“ erzählt die Geschichte von Bill und Trina, Spencer Tracy und Loretta Young, einem Tagedieb (und -löhner) und einer mittellosen jungen Frau. Eine zarte, sehr fragile Liebesgeschichte, in der die schönsten Aspekte des Stummfilms fortleben, Gesten und Bilder, mit denen eine unglaubliche Zärtlichkeit, eine grosse Intimität erzeugt werden. Der stattliche Mann mit Frack und Zylinder entpuppt sich als Sandwichmann, der Werbung für eine bekannte Kaffeemarke macht. Er nimmt sie mit in eine Bretterbudensiedlung, in der sie sich gemeinsam häuslich einrichten – wobei Bill stets den vorbeiratternden Zügen nachträumt (eine Bahnlinie führte mitten durch Cortile Cascino in Palermo), deren Lärm Trina wiederum kaum ertragen kann. In einer leider nur sehr kurzen (durch die Restauration minimal verlängerten) Szenen, einer der schönsten des Filmes, zieht Bill sich aus und springt nackt in ins Wasser. Trina folgt ihm Sekunden später nach, und gemeinsam schwimmen sie zum Mond. So entsteht eine Art Sicherheit, fragil und stets bedroht, auch durch die Lebemann-Seite von Bill. Trina eröffnet Bill, dass sie schwanger ist – doch statt dass Bill auf den nächsten Zug aufsteigt, tun sie das gemeinsam. Eine Art poetischer Irrealismus und ein Sieg über die kaum auszuhaltende Realität (die Brettersiedlung liess mich auch an den Film von Lee Grant denken) – ein Triumph auch des Kinos, das uns wider jede Vernunft eröffnet, dass nichts unmöglich ist.

Im Rahmen der 16mm-Reihe lief auch ein Schwerpunkt zum experimentellen Kino aus dem Québec und aus Kanada. Von den drei Programmen sah ich das zweite, „Looking Back: Focus on Joyce Wieland“, in dem es vier Kurzfilme zu entdecken gab: PEGGY’S BLUE SKYLIGHT (Joyce Wieland, CA, 1964, 12’), WATER SARK (Joyce Wieland, CA, 1965, 14’), A & B IN ONTARIO (Hollis Frampton/Joyce Wieland, , CA, 1967–1984, 16’) und RAT LIFE AND DIET IN NORTH AMERICA (Joyce Wieland, CA, 1969, 16’). Die Filme entstanden nach ihrem Umzug von Toronto nach New York, die ersten zwei in ihrem Studio, das auch Wohnraum war. Aus Körperteilen, Alltagsobjekten, und im ersten Film der Musik von Paul Bley werden poetische Kompositionen, doch im letzten der Filme „verrät“ Wieland das Credo der New Materialists: der Film über das Leben und die Nahrung der Ratten hat ein Narrativ, ist ein Anti-Vietnamkriegsfilm, voller ironischer Brüche zwar und äusserst humorvoll, aber dennoch ein Film mit einer klaren Message. Der gemeinsam mit Hollis Frampton gemachte dritte Film – erst 1984, nach dessen Tod, montiert – dokumentiert eine Künstler*innenfreundschaft und enthält Szenen, die nah am Slapstick sind. Wieland und Frampton schleppen ihre Kameras herum, verfolgen, belauern und Filmen sich gegenseitig.

Diese ganzen „kleineren“ Programme (Stummfilme, Experimentelles, Dokumentarfilme) liefen in der Regel in den drei Sälen der Cineteca. Dort folgte auch ein Programm aus der 1923-Reihe mit drei weiteren kürzeren Filmen: LA MONTAGNE INFIDÈLE (Jean Epstein, FR, 24′), SURPRISE (Dave Fleischer, US, 9’) und GOSSETTE – Ep. 2: Le Revenant (Germaine Dulac, FR, 48′). John Sweeney (p) und Frank Bockius (d) begleiteten Epsteins Aufstieg auf den Ätna wenige Tage nach dessen Ausbruch vom 22. Juni 1923. Mit den Kameramännern Paul Guichard und Léon Donnot zog er los, um den Berg einzufangen. Gezeigt wurde eine eingefärbte 28mm-Kopie mit spanischen Zwischentiteln, frisch restauriert von der Filmoteca de Cataluña. Dann übernahm Bockius allen für „Surprise“ aus dem Fleischer Animationsstudio, das zu Tonfilmzeiten berühmt wurde, aber schon davor tätig war. Ein Clown, der in vielen Filmen auftritt und irgendwann den Namen KoKo kriegte, interagiert im Film mit dem Zeichner Max Fleischer und entflieht in die reale Welt. Max beendet aus Versehen die Romanze des Clowns in der Animation, der Clown rächt sich … und Bockius begleitete das alles kongenial. Als Hauptevent gab es dann die zweite Episode des Sechsteilers „Gossette“ von Germaine Dulac (von der auch die „Souriante Madame Beudet“ – die ich schon mal gesehen habe – und drei „illustrated records“ gezeigt wurden), ein „original, visually captivating, subtly sentimental, and exhilaratingly suspenseful crime drama, with ample servings of plot twists and cliffhangers“. In verkehrten Gender-Rollen wird das Waisenkind Gossette, deren Zieheltern und Gönner in Ep. 2 ermordet werden, zur Heldin, die den fälschlicherweise beschuldigen Sohn der beiden rettet. Diese eine Episode erlaubte nur bedingt, das ganze zu erfassen, boten aber einige abenteuerliche Einstellungen, die den Avantgarde-Background Dulacs verraten, einen guten Flow und durchaus Spannung. Sweeney war als Begleiter zudem exzellent. Als Coda gab es danach noch zwei zusammenmontierte tschechoslowakische Newsreels, in denen die am 26. März 1923 verstorbene Sarah Bernhardt gewürdigt wurde.

Im Spätprogramm folgte dann das zweite Kinugasa-Highlight, KURUTTA ICHIPEIJI (Teinosuke Kinugasa, JP, 1926), gefolgt von ONI AZAMI (Teinosuke Kinugasa, JP, 1927, Fragment von 14′). Das erste sei Kinugasas berühmtester Avantgarde-Film – entstanden, nachdem er bereits mehr als dreissig kommerzielle Filme gemacht hatte. Überlebt hat dieser unglaubliche Film nur zufällig: 1971 fand Kinugasa in seinem Schuppen einen 35mm-Print. Seither wurde er v.a. in s/w-Kopien gezeigt, doch die restaurierte Fassung, die in Bologna zu sehen war, basiert auf dem Print, den Kinugasa fand, und der blau eingefärbt war. Damit war die Originalversion zu sehen – im Gegensatz zu späteren Tonversionen, bei denen die Bildratio verändert (um Platz für die Tonspur zu machen) und die blaue Einfärbung entfernt wurde. Die Retros (Kinugasa und Mamoulian, auch letztes Jahr Fregonese schon) liefen vollständig in den grossen Sälen ausserhalb der Cineteca – also gab’s auch hier wieder das seltsame digitale Klavier. Doch Meg Morley setzte als erste die Synthesizersounds ein, die das Instrument auch bietet: Cembalo, Orgel, Rhodes, aber auch typische 70er-Synthesizer-Sphärenklänge. Damit untermalte sie den irren Bilderreigen des alles andere als linear erzählten Filmes, dessen Plot es eher zu erahnen galt. Kinugasa sagte später, den Film habe er aus dem grossen Bedürfnis heraus gemacht, wenigstens einmal einen Film „free from anyone’s control“ zu machen. Er durfte dennoch die Studios von Shochiku in Kyoto nutzen und wurde von ihnen auch finanziell unterstützt. Der Film basiert auf einer Geschiche von Yasunari Kawabata (1899-1972), der 1968 den Literaturnobelpreis gewissen sollte, ind en Zwanzigern aber noch ein Nachwuchstalent war. Bilder aus der Anstalt, in der die Frau eines von Schuldgefühlen zerfressenen, dort als Hausmeister anheuernden Mannes haust, dazu nicht nur zum Einstieg ein schnell geschnittener, äusserst filmischer Reigen von abstrakten (oder konkreten, abstrakt wirkenden) bewegten Bildern. In einer zeitgenössischen Kritik stand, der Film sei „the first filmlike film made in Japan“, seine Schönheit sei „neither theatrical nor novelistic nor painterly; it is cinematic beauty.“

Nachtrag: „Oni Azami“ ging mir zunächst unter – das war nach dem genialen Hauptfilm eine seltsame, unglücklich platzierte Fussnote. 14 Minuten Fragmente (mit serbischen Zwischentiteln) aus einem der vielen verlorenen kommerziellen Filme Kinugasas, in diesem Fall besonders, weil der Film den ersten Auftritt des damals erst 19jährigen künftigen Stars Chojiro Hayashi (1908-1984) bei Kinugasa dokumentiert, der auch in „Yukinojo henge“, „Daibutus kaigen“ (s.o.) zu sehen ist, sowie im vor ein paar Jahren in Bologna gezeigten, leider nicht wiederholten und mir unbekannten, vielleicht berühmtesten Film Kinugasasas, „Jigokumon“. Sein Spiel sei von „sweetness and even vulnerability“ ebenso geprägt wie von seinen Fähigkeiten beim Umgang mit dem Schwert. Das kann ich soweit v.a. auf Basis von „Yukinojo henge“ definitiv unterschreiben!

Fortsetzung folgt… (zu Teil 1 / zu Teil 3)

Il Cinema Ritrovato, Bologna, 24 June - 2 July 2023 - XXXVII edizione (1/3)

 


Zum ersten Mal war ich dieses Jahr für die ganze Länge beim Il Cinema Ritrovato in Bologna dabei – „Cinephile’s Heaven“, wie die dritte Hauptsektion des Programmes überschrieben ist. „The Time Machine“ und „The Space Machine“ heissen die beiden anderen Sektionen, dazu gab es wieder einige Special Events, zudem auch Vorträge und ein paar Ausstellungen.

In „The Time Machine“ gab es eine Reihe zum Jahr 1903 und die Fortsetzung von „Cento anni fa“, was dieses Jahr 1923 bedeutete, zudem eine Reihe mit Filmen russischer Diven in Italien, eine Reihe mit Dokumentarfilmen und nicht zuletzt das „Samama Chikli Project“.

Unter „The Space Machine“ liefen eine Retrospektive von Teinosuke Kinugasa, die regelmässige „Cinemalibero“-Reihe, Filme von Elfi Mikesch, Leopold Lindtberg und eine Reihe mit deutschen Komödien aus dem Exil („The Very Last Laugh: German Exile Comedies, 1936-1936“).

Im „Paradiso dei cinefili“ gab es dann eine Menge restaurierter und ausgegraberner Filme („Ritrovati e ristorati“ bzw. „Recovered and Restored“), eine Reihe mit Filmen mit Anna Magnani, die Retro von Rouben Mamoulian, eine Reihe mit Filmen, bei denen Suso Cecchi d’Amicho mitgewirkt hat, „Powell before Pressburger“, eine Reihe mit 16mm-Filmen, sowie eine Reihe für Kinder.

Ein irres Programm mit über vierhundert Vorstellungen auf sechs Leinwänden, verteilt über neun Tage. Viel zu viel, um auch nur annähernd alles gucken zu können, zudem je nach Dauer der Filme auch etwas zu eng getaktet, um es in jedem der Slots rechtzeitig in einen der anderen Säle zu schaffen. Drei der Säle bzw. zwei Kinos und eine Mischung aus Kino und Vorlesungsraum (dort liefen Dokumentarfilme oder eben die Vorträge, von denen ich spontan doch noch einen erwischte) finden sich auf beim Cinema Lumiere, das zur Cineteca gehört, dazu werden drei Säle in der Stadt bespielt, abends kommen das grossen Open Air auf der Piazza Maggiore (Cinema sotto le stelle, läuft über mehrere Wochen bei freiem Eintritt) sowie ein kleineres Open Air beim Cinema Lumiere dazu.

Da die meisten Filme nur ein-, manchmal zwei- oder allerhöchsten dreimal gezeigt werden, muss eine Auswahl getroffen werden – für die kleineren Säle am besten mit Reservation im Voraus. Ich habe praktisch alles im Voraus gebucht, aber mein Programm mehrere Male revidiert, weil bereits ausverkaufte Vorstellungen wieder in den Verkauf gelangten oder mich was anderes als ursprünglich geplant doch mehr interessierte.

Das Programm ist grob so gestaltet, dass es zwei morgendliche Slots gibt, ca. um 9 und 11 Uhr. Dann geht es mit drei nachmittäglichen weiter, ca. 14:30, 16:30 und 18:30, bevor es um 21:30 herum in die letzte Runde geht. Dazu kommen aber immer auch kürzere Vorstellungen, die parallel laufen, und in einem der drei grösseren Säle lief die Abendvorstellung stets schon um 20 oder 20:30 Uhr. Das ist dann auch das Kino, in dem es um 22 oder 22:30 Uhr noch eine weitere Vorstellung zu sehen gab (wobei ja schon die ab 21 Uhr parallel zu den Open-Air-Screenings liefen).

Zum Thema „ausverkauft“ muss angemerkt werden, dass es für jede Vorstellung eine „last minute“-Schlange gab und die Leute, die sich dort anstellten in den allermeisten Fällen auch alle noch in den Saal gekommen sein dürften. Das alles (reservieren, last minute) geht nur noch mit Festivalpass, letztes Jahr konnte ich noch ohne fast die ganzen Retro von Hugo Fregonese besuchen. Das System finde ich etwas mühsam, aber das Publikumsaufkommen wie es scheint so gross wie noch nie war, ist es wohl vertretbar, auch wenn in den grossen Sälen (den Kinos Jolly und Arlecchino) gerne ein paar Dutzend Plätze frei blieben (auch, weil für die Supporter mit teuren Pässen stets Kontingente freigehalten werden, und wohl auch noch welche für diejenigen mit Festivalpass, die mit dem Online-Buchungssystem nicht klarkommen und beim Schalter in der Cineteca ihre Karten lösen).

Da ich seit inzwischen einem Dutzend Jahren fast nicht mehr ins Kino gehe, habe ich es wahnsinnig genossen – und es in den neun Tagen auf 45 Vorstellungen plus einen Vortrag gebracht. Drei bis sechs Vorstellungen pro Tag – meistens vier oder fünf, darunter oft auch kürzere Filme oder Programme mit Kurzfilmen, die nur eine Stunde dauerten. Und klar: ich hab im Lauf der Tage ein wenig ausgedünnt … aber da ich allein unterwegs war habe ich es so sehr ausgekostet, wie ich konnte (und wollte). Und kurzum: es war grossartig und ich bin nächstes Jahr wenn irgendwie möglich bestimmt wieder dabei!

Vollständiges Programm (auch als PDF) sowie den Katalog (als PDF – mit dem Festivalpass kriegt man die Printversion vor Ort, zusammen mit einer Stofftasche, alles mit dem Motiv aus „Quién sabe“ dieses Jahr) gibt es auf der Website:
https://festival.ilcinemaritrovato.it/en/

Die Zitate im folgenden stammen aus dem Programmheft („Heft“ … ca. 20 x 25 cm und fast 450 Seiten).


Los ging es am Freitag (23. Juni), vor dem eigentlichen Festivalbeginn, auf der Piazza mit LA NUIT DE VARENNES (Ettore Scola, FR/IT, 1982) – ein frei erfundenes, äusserst wortreiches Historiendrama um die frz. Revolution mit einem Staraufgebot, nicht zuletzt Marcello Mastroianni als alter Casanova. Scola meinte zum Film: „So what the characters are talking about is relevant to what is going on now: there are intellectuals, reactionaries, progressives and idiots, just like today.“ Ein sehr vergnüglicher Einstieg, wenngleich nicht ohne Längen.

Am Samstag (24. Juni) konnte ich für die offizielle Festivaleröffnung um 12 Uhr noch einen Platz ergattern – es gab nach ein paar Ansprachen einen wilden Mix aus meist sehr kurzen Stummfilmen, ich liess das Handy mitlaufen, aber war bisher zu faul, rauszuschreiben, was da gezeigt wurde. Daniele Furlati begleitete am (leider) digitalen Klavier (leider, weil das Ding anscheinend keinen differenzierten Anschlag und relativ wenig Dynamik erlaubt – auch in leiseren Passagen klang alles wie gehämmert).

Dann ging es weiter zum ersten Film, den ich aus dem so üppigen Programm gewählt hatte, YAM DAABO (Idrissa Ouédraogo, BF, 1986) – wunderbar! Die Geschichte einer Familie, die nicht einfach in die Stadt ziehen will, sondern in eine andere Gegend zieht und einen Neuanfang wagt. Beim Gang in die Stadt, um den Eselwagen zu verkaufen, wird der jüngste Sohn von einem Auto überfahren – doch es muss weitergehen. Nicht nur ein Familiendrama voller wahnsinnig schöner Bilder – Landschaften, Close-Ups von Gesichtern etc. – und mit einer Einführung von Aboubakar Sanogo (von der FEPACI, der Fédération Panafricaine des Cinéastes), die ein flammendes Plädoyer für Ouedrago war.

Es folgte die erste Mamoulian-Vorstellung, THE FLUTE OF KRISHNA (Rouben Mamoulian, US, 1926) sowie APPLAUSE (Rouben Mamoulian, US, 1929). Den ersten Gehversuch Mamoulians hinter der Kamera aus dem Mai 1926 zeigt eine Choreographie von Martha Graham und ein neues Zwei-Farben-Verfahren von Eastman, Stephen Horne begleitete den Film an der Querflöte. ZU sehen sind drei spärlich bekleidete Tänzerinnen, dann taucht eine vierte mit einem Stock auf, die anderen verschwinden, die mit dem Stock wird ohnmächtig – hat Krishna sie überwältigt? Eine Kuriosität, die nicht wirklich auf „Applause“ vorbereitete, eine Mischung aus Backstage-Musical und New York-Film (inkl. on location-Drehs, nicht zuletzt auf der Brooklyn Bridge, für Jazzköpfe natürlich für immer mit Sonny Rollins verbunden). Eine sentimentale Geschichte über – wie man heute sagt – einen toxischen Mann, Produzent, Zuhälter, eine ihm ergebene, ausgelieferte Burlesque-Tänzerin und deren Tochter, die eigentlich von dem Milieu ferngehalten wurde, ihm aber doch nicht entkommen kann. Ein furioses Debut, in dem bereits die irren und oft symbolisch aufgeladenen Schnitte zu bewundern sind, die Mamoulians Filme prägen und oft Gegensätze von hoch und tief (die Garderoben oder der Orchestergraben im Variété vs. die Spitzen von Wolkenkratzern) ins Bild setzen, ebenso wie die manchmal völlig entfesselte Kamera. Dass manchmal über weite Strecken keine Dialoge nötig sind zeigt, wie gut Mamoulian rein in Bildern erzählen kann.

Direkt im Anschluss auch gleich der Einstieg in die Retro von Kinugasa mit DAIBUTSU KAIGEN (Teinosuke Kinugasa, JP, 1952), einem etwas langen und zähen Drama über die Errichtung einer gigantischen Buddha-Statue, angesiedelt in der Nara-Periode (710-784 – Wiki-Eintrag zur echten). Alexander Jacoby und Johan Nordström waren hier zum ersten Mal mit einer exzellenten Einführung zu hören – die mir sicherlich half, den Film etwas besser zu verstehen.

Die Spätvorstellung gab’s dann – wie meistens – nicht auf der Piazza (zum kleinen Open Air habe ich es gar nie geschafft) sondern im Kino, meist im ziemlich leeren Saal (die Vorstellungen beginnen in der Regel um 21:30, das Open Air um 21:45, aber wenn man auf einem Stuhl sitzen will, sollte man deutlich früher vor Ort sein – oder man stellt sich in die Last-Minute-Schlange für Leute mit Festivalpass). A WOMAN OF PARIS (Charles Chaplin, US, 1923) hatte ich mir ausgesucht, den ersten Film, den Chaplin machte, nachdem er 1923 endlich – vier Jahre nachdem er United Artists mitgegründet hatte – einen Film nach seinen eigenen Regeln drehen konnte. Ein Melodram, das tragikomische Züge trägt, oft bezaubernd leicht ist und mit einem irrsinnig guten Timing glänzt. Besonders an der in Bologna zu sehenden Version war, dass sie neuer Musik versehen war: Chaplin hinterliess keine fertige Musik mehr für den Film, der Score von 1977, als der Film neu aufgelegt wurde, kommt mit wenig Material aus, das vermutlich von Eric James aufs Maximum zerdehnt wurde. Dass Eric Rogers bei der Orchestrierung aushalf, ohne Chaplins Musik zu kennen, half vermutlich auch nicht. Vor ein paar Jahren tauchten dann 19 Stunden Heim- und Studioaufnahmen von Chaplin am Klavier auf, die bis 1951 zurück reichen und teils an Mitarbeitende zur Transkription weitergereicht wurden. Timothy Brock bediente sich bei diesen zu weiten Teilen nie aufs Papier gebrachten Aufnahmen und stellte daraus einen wunderbaren Score für „A Woman of Paris“ zusammen, zwischen Salonmusik und leichter Klassik, mit einem prominenten Klavier, dazu Harfe, Celesta, ein paar Streicher, einige Bläser, darunter – passend zu einer Szene im Film – auch ein Saxophon.

Am Sonntagmorgen (25. Juni) verpasste ich die Chance, „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ zu sehen – fuhr stattdessen mit dem Bus raus zum MAST, wo es eine grossartige Ausstellung zu sehen gibt mit Fotos von Andreas Gursky (von ihm selbst und dem Direktor des MAST co-kuratiert). Der Kinotag ging dann erst um 14:30 los mit ELDRIDGE CLEAVER (William Klein, DZ/FR, 1971) einer Mischung aus Agit-Prop und Dokumentarfilm, entstanden am Rand des Festival Panafricain d’Alger. Das war meine erste Vorstellung aus der 16mm-Reihe, eine fragile Kopie, die aus dem Nachlass das Schauspielers Gérard Rinaldi (1943-2012) an die Cinématheque16 überging. Eine Kopie allerdings, die in ihrer Materialität – die Körnigkeit, die Farben – sehr beeindruckend anzuschauen ist, mit Ektachrome gefilmt, die Untertitel eingebrannt, französische Zwischentitel nachträglich eingefügt, und ab und zu sind auch noch handschriftliche Notizen für einen kurzen Augenblick zu sehen.

AMOK (Fëdor Ocep, FR, 1934) war mein nächster Film, ein langer Fiebertraum nach Zweigs Novelle. „Amok is a Malay word describing a paroxysmal state of fury induced by opium“ – und das stellt der Film in den ersten zehn Minuten eindrücklich dar. Der Dschungel Malaysias wurde im Studio nachgebaut – was allerdings überaus eindrücklich gelang. Der gefallene, dem Alkohol verfallene Arzt im Exil (Jean Yonnel), der den oder bei dem der Amok stoppt, kriegt Besuch von einer weissen Frau – und da zeigt der Film sein leider überaus rassistisches Gesicht: „une vraie femme … une femme blanche“, sagt der Arzt staunend – , die ihn für eine Abtreibung aufsucht, weil niemand in der Stadt davon wissen soll. Der Arzt – beleidigt von ihrem Angebot, er fühlt sich herablassend behandelt – lehnt ab, bemüht sich danach aber, den Ruf der Frau zu schützen, die den Eingriff mit tödlichen Konsequenzen bei einer illegalen lokalen „Engelmacherin“ durchführen lässt, derwiel der Ehemann fast schon von seiner langen Reise zurückgekehrt ist … ein starker Film mit einem äusserst unschönen Beigeschmack.

Weil Carlo Chatrian bei seiner Einführung für „Rio Bravo“ ins Labern gekommen war, begann mein nächster Film eine halbe Stunde verspätet, CRY, THE BELOVED COUNTRY (Zoltán Korda, GB, 1951) – doch das Warten (es gab einen Spaziergang und ein Gelato) sollte sich lohnen. Korda sei der Regisseur, der wie kein anderer Filmemacher alle Ecken des British Empire abgegrast habe. „Cry“ drehte er in Südafrika, dokumentiert dabei unbehindert von den imperialistischeren Ansichten seines Bruders Alexander (neben Zoltán und Drehbuch-Co-Autor Alan Paxton Co-Produzent) das Leben im von der Apartheid getrennten Land. Dass die beiden Hauptdarsteller aus einem Land mit einem ganz ähnlichen rassistischen System stammten, gibt dem Film zusätzliche Würze: Canada Lee und Sidney Poitier mussten als ihre Visa als „domestic servants“ von Korda beantragen, um ins Land zu gelangen und an der Seite von Korda und dem weissen Teil des Cast und der Produktionscrew arbeiten zu können. Ein Film, der unzweifelhaft eine Anklage gegen Rassismus (nicht nur in Südafrika) und gegen die Unterdrückung und das Elend, das der Kolonialismus mit sich brachte, darstellt. Dass Teile des Films on location in den Slums um Johannesburg gefilmt wurden ist natürlich besonders bemerkenswert, dass zudem manchmal Musik aus dem damaligen Südafrika erklingt ebenfalls toll (leider gibt es keine Details dazu in den Credits, Raymond Gallois-Montbrun hat den Hauptteil des Soundtracks komponiert – geboren 1918 in Saigon passt denn auch in die Kolonialzeit).

Ein überaus gelungener und sehr breiter Einstieg bis dahin, womit ich bereit war für den ersten richtig heftigen Kino-Tag, Montag 26. Juni. Um 9:15 guckte ich das Programm „Le attuatlità senegalesi“ mit vier kurzen Dok- bzw. Nachrichtenfilmen, die 2017 im verlassenen Gebäude des ehemaligen Informationsministeriums in Dakar gefunden wurden: LE SÉNÉGAL ET LE FESTIVAL MONDIAL DES ARTS NÈGRES (Paulin Soumaunou Vieyra, 1966, 28’), IFE / 3ÈME FESTIVAL DES ARTS (Vieyra, 1971, 13’), SÉNÉGAL AN XVI (Babacar Gueye, Orlando Lopez, 1976, 21’) und VOYAGE AUX ANTILLES DU PRÉSIDENT SENGHOR (Georges Caristan, 1976, 17’). In den ersten beiden Filmen wird eine neue urbane Modernität gefeiert in der Metropole, die jetzt vom Joch des Kolonialismus befreit in eine neue Zeit aufbricht – dabei wird moderne Architektur so toll ins Bild gesetzt wie die Kunst, die bei den Festivals, die als Aufhänger dienen, gezeigt und hergestellt wird. Ein Ausflug aufs Land ist auch drin, das ganze kommt im Wochenschau-Stil daher. Am Festival Mondial wirkten u.a. André Malraux, Duke Ellington, Langston Hughes, Josephine Baker oder Aimé Cesaire mit. Im zweiten Film sind u.a. Wole Soyinka und Ousmane Sembène zu sehen, von dem beim Festival „Ceddo“ und über den eine kleine Foto-Ausstellung gezeigt wurde – letztere habe ich angeschaut, den Film aber leider verpasst. Beim 16. Geburtstag unterstützte dann Nordkorea die Feierlichkeiten der senegalesischen „Demokratie“ – und dass da schon wieder etwas aus dem Lot war, konnte man sich auch angesichts der endlosen Paraden denken, die gezeigt werden. Neben dem Bericht über die Jubiläumsfeierlichkeiten (Sportanlässe, Militärparade, Abschlussevent im Präsidentenpalast) wurden dann auch noch Nachrichten gezeigt: der Besuch des ivorischen Präsidenten Félix Houphouët-Boigny im Elysée-Palast, um die Rolle Europas im postkolonialen Afrika zu besprechen, die Einflussnahmen der USA wie der Sowjetunion, ein Treffen mit Jacques Chirac. Dann folgte noch ein Bericht über ein französisches Patent für einen Impfstoff, mit dem bei einem Meningitis-Ausbruch in Brasilien rasch geholfen werden konnte (da stehen die Menschen dankbar in langen Schlangen an). Im letzten Film reisten wir dann mit Senghor durch die Antillen und feiern irgendwelche Völkerfreundschaften, besuchen das Set von Sembènes „Ceddo“ und die Eröffnung von „Ramsès le Grand“ im Pariser Grand Palais. Klar wird auch aus dieser Zusammenfassung, wie zentral Frankreich auch im Jahr XVI noch war.

Mit PROCESSO ALLA CITTÀ (Luigi Zampa, IT, 1952) sah ich danach einen (einzigen) Film aus der Reihe, die Suso Cecchi d’Amico gewidmet war. Ein früher, eindrücklicher und eindringlicher Spielfilm über die Mafia. Es war 1952 noch nicht denkbar, ihn über die Camorra der Gegenwart zu drehen, also wurde er im Neapel von einigen Jahrzehnten davor angesiedelt. Die Mafia ist eine parasitäre Bürgersgesellschaft, die ausbeutet und mordet, deren Netz durch die ganze Gesellschaft geht und auch die Polizei beinhaltet, die gemeinsam mit der Hauptfigur, einem unerschrockenen Richter, der am Ende völlig allein da steht, zu ermitteln vorgibt, aber in Wahrheit nichts anderes als zu vertuschen sucht, Sündenböcke organisiert – und dabei in den Logen in der Oper sitzt, wo sich die jüngsten Neuigkeiten natürlich blitzschnell verbreiten. „Perhaps the best screenplay I ever wrote is the one for Processo alla città. It is a really beautiful screenplay … Zampa is an underrated director. I think he played an important role. I have always admired his ability to make our stories relevant, all the while often placing them within the context of entertaining comedies. He was a director whose style was less artistic than some of those who followed, but his strengths are indisputable“ (Suso Cecchi d’Amico).

Weiter ging es am Nachmittag mit PROSOPO ME PROSOPO (Roviros Manthoulis, GR, 1967), für den die angekündigte Einführung leider entfiel. Ich habe von Manthoulis noch nie gehört, fand den Film enorm beeindruckend. Sehr Sixties, in bestechenden s/w-Bilden fotografiert, oft sehr cool – und zugleich zeigt der Film wiederum eine skrupellose, amoralische Elite in Form einer Familie, die sich selbst permanent überwacht und in die quasi als Vertreter des Publikums ein Aussenseiter als Englischlehrer der Tochter eindringt … oder eher, so scheint es die Familie zu planen: sich einnistet und kleben bleibt in der Falle. Kafkaeske Momente also immer wieder, am Ende eine Befreiung, wenn der Protagonist sich heroisch losreisst und seine Arbeiterklassen-Maskulinität zurückerobert, die ihm von den neuen Barbaren (die Tochter heisst Barbara) davor genommen wurde. Der Film gewann 1966 ein paar Preise, wurde natürlich nach Beginn der Militärdiktatur verboten. Was mögliche Lesarten angeht bin ich mir überhaupt nicht sicher (auch die Sache mit der Maskulinität – heute in der Form zum Glück aus der Zeit gefallen … eben: schade entfiel die Einführung, die Maria Komninos vom griech. Filmarchiv hätte halten sollen).

Der nächste Film war laut. Irre. Und irre laut! THE PLOT AGAINST HARRY (Michael Roemer, US, 1971/1989). Roemer war im Rahmen der „Ritrovati e Restaurati“-Reihe ein kleiner Schwerpunkt gewidmet, nebst den Filmen, die ich hier erwähne, lief auch noch „Nothing But a Man“ von 1964 mit Abbey Lincoln, den ich schon kannte, wenngleich nicht aus dem Kino … aber solche Überlegungen spielten halt bei der persönlichen Programmgestaltung eine Rolle, angesichts des unglaublichen Reichtums des Gebotenen). Harry Plotnick ist ein wahnhafter jüdischer Mobster, der am Anfang des Filmes aus dem Gefängnis kommt und sich darum bemüht, wieder Anschluss zu finden. Der Film, „animated by documentary flair that captures both New York’s simmering multi-ethnic melting post as well as remarkable images of a now lost world“, präsentiert eine Reihe grossartiger Szenen, nicht zuletzt aus einem Catering-Unternehmen, einem Golfclub direkt neben einem mehrspurigen Highway (der Film ist LAUT! Mir pfiffen wirklich die Ohren nach den 80 Minuten), jüdische Familienfeste, Lingerie-Modeschauen etc. Roemer hat dafür lange recherchiert und gleich ein Jahr bei einem jüdischen Catering in Long Island gearbeitet. Das Ensemble besteht zum allergrössten Teil aus Laien-Darsteller*innen. Und der ganze Film ist so komisch wie er laut ist (also irre komisch) – und klar, Harry geht einer grossen Verschwörung auf den Leim, aber das spielt eigentlich am Ende gar keine so grosse Rolle mehr. Ein irres Vergnügen!

Und danach war’s noch nicht mal Zeit für die kurze Abendessen-Pause. Es ging mit YUKINOJO HENGE (Teinosuke Kinugasa, JP, 1935) weiter, in dem ein Kabuki-Schauspieler, der (wie früher Kinugasa) auf Frauenrollen spezialisiert ist („onnagata“), sich an den beiden Bösewichten rächt, die einst seine Eltern in den Ruin und in den Selbstmord getrieben haben. Der Film blieb für mich streckenweise undurchdringlich und rätselhaft, auch über die langen Szenen aus dem Theater hinaus – wo der Hauptdarsteller ein gefeierter Star ist, der nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, dem Ort des einstigen Geschehens – wirkte das zu Sehende oft äusserst theatralisch und ja: manchmal wie abgefilmtes Theater. Das ist um so erstaunlicher angesichts der Stummfilme Kinugasas (s.u.), aber natürlich auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass das genau so sein sollte. Dass das ganze auch noch ein das steife Korsett einer Rahmenhandlung gepackt wurde, machte die Sache nicht besser. Dafür gab es wunderbar poetische Szenen und einige tolle Martial-Arts-Einlagen. Eine der besten kombinierte beides, eine der grossen Racheszenen gegen Ende, ein Schwertkampf des Helden mit zwei Kontrahenten in einer leeren Nebel-Studiolandschaft, die gar nicht erst versucht, wie eine realistische Landschaft auszuschauen. Da überwindet der Film dann doch wieder alles, was ihn sonst schwerfällig und steif macht.

An dem Abend musste ich dann wieder auf die Piazza (und verpasste deswegen Peckinpahs „Cross of Iron“, den ich schon sehr gerne mal noch sehen würde): da gab es STELLA DALLAS (Henry King, US, 1925) mit Live-Begleitung durch das Orchestra del Teatro Comunale unter der Leitung von Timothy Brock (er ist in dieser Rolle wohl seit Jahren dabei, ich war 2016 schon auf der Piazza, als das TCB-Orchester und Brock einen Chaplin-Klassiker begleiteten). Die neue Musik von Stephen Horne fand ich leider eher belanglos – durchaus nett anzuhören, aber das plätscherte halt so dahin (nach dem tollen Chaplin-Soundtrack von Brock davor war halt der Kontrast auch gross). Den Film fand ich jedoch umwerfend – ein Drama um eine eigenwillige, unabhängige und doch irgendwie gefangene Frau, die irgendwann merkt, dass sie sich zurückziehen muss, damit ihre Tochter ein eigenes Leben leben kann. Lustig, tragisch, voller wunderbar zarter Bilder und Szenen, mit einem grandiosen Highlight gegen Schluss, wo Stella im Regen am Zaun steht und von draussen die Hochzeit ihrer Tochter beobachtet – bis ein Polizist sie unsanft wegschubst und zum Weitergehen auffordert. „We are stirred into sympathy with all these people because we cannot help identifying with them“, zitiert das Programm eine zeitgenössische Kritik: „the whole picture is so full of the half-tones of which ordinary life is composed.“

Fortsetzung folgt … zu Teil 2

Sheila Jordan - Moods, Zürich - 19. September 2017





















Sheila Jordan (voc), Renato Chicco (p), Peter Herbert (b)

Gestern im Moods in Zürich die grosse Sheila Jordan Show … nach zehn Jahren und ein paar Wochen vor ihrem 89. Geburtstag ist sie immer noch ziemlich fit – vor allem stimmlich. Die Intonation ist schwer und sehr eigen, die Stimme tiefer geworden und oft mürbe wie jene der späten Billie Holiday, aber dann setzt sie einen Schnörkel und zieht ihn in die Höhe, auch der Wechsel in die Kopfstimme funktioniert noch leidlich gut. Aber all das spielt ob ihrer Ausstrahlung überhaupt keine Rolle, sie hat den Raum sofort im Griff, ein paar launische Ansagen, ein paar Textzeilen, die sie so ähnlich wohl immer wieder bringt, aber den Abenden, den Orten, den Räumen anpasst. Spätestens im zweiten Song ist auch der letzte Zweifel verflogen.

Die Band macht einen sehr guten Job, auch wenn Chicco gewiss kein charismatischer Pianist ist und seine Beiträge waren oft eher Atempausen für Jordan als wirklich anregende Soli, Herbert machte am Bass einen sehr guten Job und zusammen swingte das auch ohne Schlagzeug mehr als ordentlich. Bei der Art und Weise, wie Jordan phrasiert, ist es auch gewiss nicht einfach, diesen gemeinsamen Swing über den ganzen Abend aufrechtzuerhalten. Es gab Standards und alten Pop wie „It’s You or No One“, „How Deep Is the Ocean“, „All Or Nothing at All“, ein native american Intro (auf den Alben heissen diese Stücke „Child Song“, „Little Song“ oder ähnlich) führte direkt über in „The Moon Is a Harsh Mistress“, den Opener ihres Debut-Albums „Falling in Love with Love“, Abbey Lincolns „Bird Alone“, sie sang im ersten Set eine grossartige langsame Version von „Oh Lady Be Good“ als Hommage an Ella Fitzgerald, erzählte und sang ihre Stories über die Begegnungen mit Lennie Tristano und vor allem mit Charlie Parker („Confirmation“ und wenigstens noch ein eigenes Stück und auch eingestreutes in ihren improvisierten eigenen Strophen) – und natürlich fehlte weder ihre umgewandelte (weibliche) Version von „Dat Dere“ (im zweiten Set im Duo mit Herbert) noch gegen Ende des zweiten Sets „Sheila’s Blues“.

Die beiden Sets dauerten je eine gute Stunde – und am Ende des zweiten, das gebührend mit einem Single Malt begossen wurde, hatte ich tatsächlich einmal Tränen in den Augen. So grossartig war dieser Auftritt, dass tatsächlich keine Fragen offen blieben und sich das dieses unfassbare Gefühl einstellt, in dem man alles begriffen hat und eigentlich gar nichts mehr will.


„Sheila’s Blues“ von 2012 (so gut wie das Piano-Solo hier war Chicco dann aber locker auch … aber in dem Stück spielte er wohl auch sein bestes des Abends)