Il Cinema Ritrovato, Bologna, 24 June - 2 July 2023 - XXXVII edizione (2/3)

 

Dienstag 27. Juni, Tag drei, begann mit einem Highlight: BUSHMAN (David Schickele, US, 1971). Ein recht kurzer Film (73′), der gleich mit einer unsterblichen Sequenz beginnt: Gabriel, die Titelfigur, mit der wir durch den Film gehen, geht barfuss mit seinen Converse auf dem Kopf eine Strasse entlang, dreht sich hie und da um, um Autostopp zu machen. Dazu Yoruba-Trommeln, die sich mit einem Cembalo-Stück von Henry Purcell mischen. Der Film geht der Identität von Gabriel nach, dem „Bushman“, der in die USA gekommen ist, um zu unterrichten. In Flashbacks und Gegenüberstellungen wird seine Geschichte skizziert – stets in eindringlichen Bildern, die nicht vieler Worte bedürfen. „With one eye on cinéma vérité, the European new waves and early Cassavetes, and the other on African pioneers like Sembène, Ecaré and Hondo, Schickele not only condemns the reactionary and racist America which will later frame Gabriel on the slightest of pretexts, but also the liberal America of progressive intellectuals who quote McLuhan and Malraux but lapse into rhetoric and misunderstand the deeper meaning of human experience. With irony, poetry and a delicate touch, Bushman leads us into the darkness of the beginnings of an odyssey“ (Cecilia Cenciarelli im Programmheft). So ein Film um 9:15 und der Tag ist eh schon grossartig … Gabriel heisst in Wahrheit Paul Eyam Nzie Okpokam. Bei Protesten auf dem Campus (San Francisco State College) wird ihm was untergejubelt, er kommt in Ausschaffungshaft und wird nach einem Jahr oder noch länger in Haft abgeschoben – ohne dass der Film zu Ende gebracht werden konnte. Gedreht wurde er 1968, fertiggestellt 1971 mit einer Coda, in der dieses letzte „Kapitel“, das schmerzhaft real ist, auch noch erzählt wird. Die neben dem Einstieg tollste Sequenz ist irgendwo mittendrin zu finden, Paul läuft mit einem Stück Baumstamm durch die Gegend, nimmt diesen überall hin mit. Einprägsame, umwerfende Bilder, die nicht vieler Worte bedürfen. Aber das sagte ich ja schon.

CORTILE CASCINO (Robert M. Young/Michael Roemer, US, 1962) und FACES OF ISRAEL (Michael Roemer, US, 1962) gab es danach, nebst einer langen Einführung durch Goffredo Fofi, der einst als junger Aktivist selbst ein Jahr im Cortile Cascino lebte, tagsüber den Kindern, abends ihren Eltern Lesen und Schreiben beibrachte, sich auch – ohne jegliche Ausbildung – um medizinische Grundversorgung kümmerte. Fofi hat später u.a. Texte von Buñuel herausgebracht und auf dessen Frage, welchen seiner Filme er am liebsten mochte, „Los olvidados“ genannt – und nachgeschoben: aber in Palermo hätte es ein Viertel gegeben, in dem es noch viel schlimmer gewesen sei. Das war Cortile Cascino, wo Roemer/Young 1962 ihren 46′-Film drehten, im Auftrag der NBC, die dann aber so schockiert vom Ergebnis war, dass die Ausstrahlung abgesagt, die Negative vernichtet, Young gefeuert wurde. Überlebt hat der Film dank einem NBC-Mitarbeiter, der an die Verdienste des Filmes glaubte. Jedenfalls ist es unglaublich, diese Bilder zu sehen. Ein Ort im Nachkriegseuropa, an dem vom Wirtschaftswunder nichts zu sehen war. Und natürlich hatte auch hier die Mafia das Sagen: selbst bei Elendesten gibt es noch etwas zu holen, Märkte, Friseursalons oder illegale Schlachthöfe zu kontrollieren, Glücksspiel – und selbst die Konzessionen für Begräbnisse. Wenn ich das richtig erinnere, reichte die Aufregung um den wie gesagt gar nicht ausgestrahlten Film (er wurde Auszugsweise 1993 im Film Children of Fate: Life and Death in a Sicilian Family veröffentlicht) aus, um das Viertel dem Erdboden gleich zu machen und die Menschen von dort zu vertreiben. Dass Fofi dabei war – und auch die Protagonist*innen des Films teils persönlich kannte – gab dem ganzen nochmal eine völlig andere Dimension. Für den Bilderreigen von „Faces“, einem lyrischen Montage-Film, wie man ihn auch von Chris Marker kennt, und jetzt ganz ohne die bei „Cortile“ erzwungenen Voiceovers, hatte ich danach leider nicht mehr viel Aufmerksamkeit übrig – aber klar, mit Fofi im Saal wäre es auch seltsam gewesen, diesen zuerst zu zeigen. Und vielleicht war die Idee auch, dass nach dem erschütternden Elend ein paar hoffnungsvolle Bilder gut tun würden? Jedenfalls tat es mir leid, dass ich dem Film unter den Umständen schlicht nicht gerecht werden konnte.

Am Nachmittag sah ich zwei Dokumentarfilme im DAMSlab, dem erwähnten Raum, der eher einem Hör- als einem Kinosaal gleicht. DOROTHY ARZNER, UNE PIONNIÈRE À HOLLYWOOD (Clara Kuperberg, Julia Kuperberg, FR, 2023) ist der Abschluss der Filmreihe, die die Kuperberg-Schwestern über die Pionierinnen Hollywoods machten – sagten sie zumindest bei der Einführung, denn es gäbe nun keine weiteren, sie hätten über sie alle einen Film gedreht. Das war ein ansprechender Film, wie ich ihn gerne mal bei arte gucken würde … vor allem machte er mir aber grosse Lust auf die Filme von Arzner, von denen ich noch keinen einzigen kenne.

Im Anschluss folgte ANTONIA: A PORTRAIT OF THE WOMAN (Judy Collins, Jill Godmilow, US, 1974) – und der wiederum war sehr toll. Antonia Brico, die Dirigentin und ebenfalls Pionierin (u.a. als erste Frau am Pult der Berliner Philharmoniker, 1930), war mir kein Begriff. Ihre „Karriere“ ist eher die Abwesenheit einer selbigen – sie war ja schliesslich eine Frau. Ein faszinierender Einblick in das Schaffen, Denken, Fühlen einer Person, die als Künstlerin kompromisslos und wahnsinnig engagiert war – aber mit all ihrer Energie jahrzehntelang nirgendwohin konnte, weil sie eben fast keine Engagements kriegte. Der Film scheint das etwas gebessert zu haben, aber das bezog sich dann nur noch auf die letzten paar Lebensjahre.

Danach gab’s mein erstes Kinugasa-Highlight: JUJIRO (Teinosuke Kinugasa, JP, 1928), wieder mie Einführung von Alexander Jacoby und Johan Nordström, und mit Donald Sosin am leidigen digitalen Klavier (ich schreibe „Klavier“ und nicht „Synthesizer“ oder „Keyboard“, weil das Ding wie eine Art kleiner Stutzflügel aussieht). Der Film ist nach „Kurutta ichipeiji“ (s.u.) der zweite avantgardistische Film von Kinugasa – dazwischen hat er 19 Filme in 19 Monaten, meist „chanbara“ (Actionfilme) – und er beschrieb „Jujiro“ später als „chanbara without swordfights“. Das recht gradlinig erzählte Melodram über einen unglücklich in eine Kurtisane verliebten jungen Mann und seine aufopfernde Schester kommt als grosses expressionistisches Drama voller unfassbar starker Bilder, Licht- und Schatteneffekte und ungewöhnliche Kameraeinstellungen daher. Auch die Kulissen können sich sehen lassen: das Gebäude, in dem Bruder und Schwester wohnen, hätte auch in einen Film des deutschen Expressionismus gepasst (ist aber weniger kantig), die späteren Aussenszenen (die natürlich alle nicht draussen gedreht wurden) verraten, woher das seltsame Setting von „Yukinojo Henge“ kommt.

Zum Ausklang des Tages wollte ich einen einzigen Film aus der Reihe der dt. Exilkomödien sehen, Hermann Kosterlitz‘ „Peter“ aus dem Jahr 1934 – doch leider hat es an dem Abend geregnet und die Open-Air-Vorstellung von der Piazza wurde in drei Kinos statt der dort geplanten Filme gezeigt. Schlimm war das nicht, denn den Film, den ich zu sehen kriegte, hatte ich am nächsten Morgen wegen drohenden Overkills schon gestrichen – und kriegte ihn auf dem Umweg halt doch noch zu sehen: BIRUMA NO TATEGOTO (Kon Ichikawa, JP, 1956). Der Film handelt von japanischen Truppen, die 1945 in Burma stationiert sind, als das Kaiserreich kapitulierte. Die Truppe, zu der auch Mizushima gehört, ergibt sich – nach einer irren Szene, in der sie sich für belagert hält und von britischen Truppen umzingelt wird – beide Seiten singen dabei lauthals im Chor, die Japaner auch, um geplante Verteidigungsmassnahmen zu vertuschen. Mizushima, der sich in der Zeit in Burma das Spiel der Harfe beigebracht hat („Die Harfe von Burma“ ist der dt. Alternativtitel), meldet sich freiwillig, um eine andere japanische Truppe zur Kapitulation zu überreden, die in einem Berg verschanzt zum letzten Gefecht bereit ist. Er zieht los, scheitert, wird beim Sturm der Briten verletzt, von einem Mönch versorgt – und zieht dann selbst als Mönch durch das Land, sucht die Nähe vom Gefangenenlager, in dem seine Freunde aus der Truppe einsitzen, reagiert jedoch nicht, als diese ihn (zu) erkennen (glauben). Als sie nach Hause dürfen, schreibt er dem Kommandanten einen Brief, dass er im Land bleibe, um der vielen toten Japaner zu gedenken, die überall herumliegen – apokalyptische Bilder gibt es auf seinen Wanderungen immer wieder zu sehen, und so wird aus dem Film, der als spannender Kriegsfilm beginnt, ein eindringlicher Antikriegsfilm (gezeigt wurde die 116minütige Einteiler-Version in einer Restauration von 2022).

Am Mittwoch (28. Juni) bin ich dann erst auf die 11-Uhr-Vorstellung ins Kino, mit GOLDEN BOY (Rouben Mamoulian, US, 1939) zum Einstieg. Wo ich eine ganze Menge Pre-Code-Filme zu sehen kriegte (nicht nur von Mamoulian) drängt sich ein wenig die Frage auf, wie der Film wohl ausgesehen hätte, wenn er von 1932 statt von 1939 wäre. Die (verhinderte) Liebesgeschichte zwischen dem mittelmässigen Musiker, der zum Boxer wird (William Holden) und Barbara Stanwyck, die das love interest seines zynischen Managers (Adolphe Menjou) spielt, hätte wohl einiges offenherziger erzählt werden können. Doch auch so ist das ein klasse Film, den eigentlich Frank Capra hätte drehen sollen, während Mamoulian für „Mr. Smith Goes to Washington“ vorgesehen war. Doch es kam genau umgekehrt. Das Drehbuch basierte auf einem Stück des linken Autors Clifford Odets von 1937, Mamoulian überwachte selbst die Anpassung, in deren Rahmen die politischen Aspekte wegfielen bzw. weniger wichtig wurden, dafür Humor und Ironie dazukamen. Die Charaktere von Holden und Stanwyck sind beide nicht klar festgelegt: er schwankt zwischen seiner Brutalität als Boxer und der Empfindsamkeit als Musiker, sie weiss nicht, ob sie den harten Boxer oder den Musiker liebt. Am Ende – nachdem er seinen Manager durch einen Mobster eingetauscht hat – tötet er unbeabsichtigt einen Gegner im Kampf – und hört zu Boxen auf. Ob es da schon zu spät ist, lässt der Film offen. Von Holden habe ich glaub ich noch keinen so frühen Film gesehen – er überzeugt in der Rolle unbedingt, aber die Glanzlichter setzt Stanwyck mit ihrer so ambivalenten, zynischen Figur.

Der Nachmittag gehörte dann Albert Samama Chikli (1872–1933), einem tunesischen Regisseur, Photographen, Technikfreak, Abenteurer, Radrennfahrer und ganz allgemein Kino-Pionier. Geboren in eine wohlhabende jüdisch-tunesische Familie, der Vater Bankier des Bey und Gründer einer Bank, aus der später die Bank of Tunisia wurde. Der Nachlass von Chikli wurde von den Erben der Cineteca Bologna übergeben, um 15’000 Fotos und 4’000 Dokumente, und mit der Aufbereitung dieser Bestände konnte auch Filme als von oder mit Chikli identifiziert werden. Im ersten Programm wurden zunächst Dokumentarfilme und Newsreels aus den Gaumont- und Pathé-Archiven gezeigt (FR/IT/TN, 1911-1930), dann folgte [EN MARGE DU FILM ‚LES CONTES DES MILLES ET UNE NUITS‘], ein halbstündiger Spielfilm, dessen Herkunft noch nicht geklärt ist. Vermutlich entstand er als Nebenprodukt der Dreharbeiten zum genannten Film, bei dem – das haben die Forschungen in Bologna zum Vorschein gebracht – Chikli als einer von zwei Kameramännern und als Kontakt vor Ort in Tunesien mitwirkte. Mariann Lewinsky, eine der vier Leiter*innen des 2023er-Festivals und Herausgeberin des neuen Buches über Chikli, schreibt: „What might have been the purpose of this short film? Was it ever released? Or rather shot by the Ermolieff cast and crew [die „Les Contes de Milles et une Nuits“ produzierte] as an elaborate private souvenir of their stay in Tunisia? It is marvellous to see Albert Samama acting, and devastating how in this innocent little film, his destiny in the context of the 1920s is laid bare, involuntarily. Tunisia is reduced to serve as location for international productions and the Tunisian filmmaker relegated to the role of a servant.“ Stephen Horne sorgte – in einem er Säle der Cineteca mit einem richtigen Klavier – für eine hervorragende Begleitung.

Im Anschluss gab es auch LES CONTES DES MILLE ET UNE NUITS (Viatcheslav Tourjansky, FR, 1921), den 70minütigen Spielfilm, an dessen Rand der davor gezeigte Kurzfilm entstanden ist – mit Matti Bye am Klavier und Eduardo Raon an der Harfe, wobei letztere selten konventionell gespielt wurde und einige an Elektronik zum Einsatz kam. Dass Chilkli eben als Kameramann und Koordinator in Tunesien (der Film wurde als Dreiteiler produziert – eben von Ermolieff, die sich 1922 in Albatross umbenannten – , überlebte aber nur in einer verkürzten Version, wie sie in den USA distribuiert wurde) konnte erst 2022 durch den Fund eines Zeitungsausrisses von 1921 im Nachlass bestätigt werden: „Cameramen were Mr. Leclerc, a veteran camera operator for Pathé, and Mr. Samama-Chikli, who has been of great help to all of these screen artists“). Im Gegensatz zum Kurzfilm, der völlig ohne Zwischentitel auskommen und perfekt funktioniert (der Plot ist auch recht simpel), sind „Les Contes des Mille et une Nuits“ ein elaboriertes Produkt: Karawanen, Paläste, Kostüme, Reichtümer, natürlich die Geschichte in der Geschichte … die Begleitung passte sehr gut, und die Exotica haben durchaus ihren Charme.

Dann ging’s wieder rüber in den Vorlesungssaal, in dem DOWN AND OUT IN AMERICA (Lee Grant, US, 1986) gezeigt wurde. Im Lauf des Films habe ich mich mehrmals gefragt, ob ich den Film nicht bereits gesehen habe? Vermutlich nicht, aber die Szenen auf dem Land bei den protestierenden Farmern, die ihr Häuser, ihren Fuhrpark, ihr Land unter Wert verkaufen müssen, weil die Banken ihnen keinen Kredit mehr gewähren, kamen mir sehr bekannt vor. Ein deprimierender Film, in dem es zudem um die Wohnungsnot in den Grossstädten geht, wie Obdachlose in New York in „Hotels“ versorgt werden, wie sie quasi zum Produkt einer profitablen Wohlfahrtsindustrie gemacht werden, völlig entrechtet und jeglichen Handlungsspielraums beraubt. Ein Projekt in San Francisco, eine Art autonome Siedlung auf einem Parkplatz (von dessen Besitzer toleriert), wird natürlich plattgemacht, geräumt, komplett zerstört – denn dass diese Menschen sich Handlungsmacht zurückerobern, ist nicht vorgesehen. Und ich befürchte, das ist in den westlichen Ländern bis heute genau so – der letzte Skandal über grosse Profite, die private Vermieter mit Gammelliegenschaften, in denen unter unhaltbaren Zuständen im Auftrag (aber ohne Kontrolle) der Obrigkeit Randständige einquartiert werden liegt in Zürich z.B. nur wenige Jahre zurück. Heftig fand ich besonders die Schlussszene, in der eine Familie auf einem Pier in Coney Island sitzt und Grant sich einmischt: ob die Situation (die Wohnung brannte aus, sie wurden in ein Gammelhotel umquartiert, die Wohnung später renoviert und neu vermietet, aber natürlich nicht an sie, denen nach dem Brand gar nichts geblieben ist) ihre Beziehung verändert habe, will sie wissen. Und dann scheint etwas zu passieren, eine Reflektion, eine Klarheit, die einen möglichen Bruch durchaus denkbar macht – eine Reflexion, wie sie eben ohne Grants Eingreifen vielleicht nicht stattgefunden hätte. Ähnlich wie in „Cortile Cascino“, wirft das Eingreifen der Filmemacher*innen grosse ethische Fragen auf (die nur Michael Moore, der moralische Sauhund, für sich so eindeutig beantworten kann, befürchte ich – reflektiertere Menschen könnten an diesen Fragen eher zerbrechen als sie beantworten).

Dass es danach eine lange Pause gab und einen leichteren Film in der Spätvorstellung, passte dann sehr gut: CITY STREETS (Rouben Mamoulian, US, 1931) machte den Ausklang dieses Tages, ein Gangsterfilm, in dem die Hauptdarstellerin Nan einsitzt, weil sie ihren Vater nicht verraten will (der ihr die versprochene Hilfe nicht bieten kann). Der Schiessbuden-Sharpshooter The Kid verliebt sich in Nan, lässt sich während ihres Gefängnisaufenthaltes auf die Bootlegger-Geschäfte von deren Vater ein. Die Bildsprache des Filmes ist einmal mehr voller Überraschungen: Kameraarbeit (Lee Garmes) zwischen Dokumentarfilm und Expressionismus mit viel Dunkelheit und Schatten, die Erzählweise wirkt oft Fragmentarisch, Objekte und Bewegungen werden zur Metapher: vom Schaum in einem Bierglas wird zu zu einer Bierflasche geschnitten, zu einem Wasserstrom, zu Wassertropfen. Es gibt aufgeladene Close-Ups (wenn Sylvia Sidneys Nan sich an die Vergangenheit erinnert), Assoziationen, bei denen Gegenstände, die Mise-en-Scène zum zentralen Bedeutungsträger werden. Eins meiner Mamoulian-Highlights, zweifellos.


Am Donnerstag 29. Juni hatte ich dann wieder ein volles Programm. Los ging es um 9:15 mit RINGS ON HER FINGERS (Rouben Mamoulian, US, 1942), eine leichtfüssige Romanze mit Zügen einer Screwball-Komödie (was aber letztlich wegen Gene Tierney nicht recht klappen will). Tierney, die naive Lingerie-Verkäuferin im Warenhaus wird von einem paar abgebrühter Hochstapler rekrutiert. Sie fassen Henry Fonda ins Auge, dessen Figur: ein Mann mit dem gewissen „Wall Street tan“. Dieser will mit seinem ganzen Ersparten ein Schiff kaufen – das natürlich jemand anderem als den Hochstaplern gehört, die es ihm verkaufen und verliebt sich dabei blöderweise unsterblich in Tierneys Figur. Die beiden verlieben sich tatsächlich, es wird klar, dass er nur ein kleiner Angestellter ist. Der Film hat einen guten Flow, ist elegant, fröhlich und voll mit typischen Mamoulian-Motiven (Beine, Lingerie, Mannequins) und -Themen (vertauschte Identitäten, Transformationen, Role-Playing). Das Skript ist allerdings sehr wortreich, Tierney als comédienne wie gesagt eher limitiert. Fonda glänzt dafür umso mehr und auch die Nebenrollen (der skurrile Detektiv, die Betrüger) sind super.

Einmal um den Block und wieder in die Schlange gestanden für den nächsten Mamoulian: BLOOD AND SAND (Rouben Mamoulian, US, 1941), ein Jahr früher aber in Farbe gedreht, um nicht zu sagen: gemalt. Im Mamoulian-Post schrieb ich zu „Blood and Sand“ schon ein paar Zeilen, die ich jetzt einfach nochmal kopiere:

In manchen Filmen arbeitet Mamoulian wie ein Maler. „Blood and Sand“ von 1941 über den Aufstieg und Fall eines Toreros ist das beste Beispiel dafür. Goya, Velázquez oder El Greco hat Mamoulian studiert und setzt ihre Kunst um, inszeniert Tableaux des Begehrens, der Verführung, des Todes, mit Hilfe seiner Kameramänner Ernest Palmer und Ray Rennahan, die für ihre Technicolor-Arbeit mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Mamoulian erzählte später in einem Interview (Sight & Sound Nr. 3, Sommer 1961), wie er gearbeitet hatte. U.a. habe er stets eine riesige Kiste mit Schals, Taschentüchern etc. in allen möglichen Farben dabeigehabt, um damit bei den Kostümen jederzeit Farbakzente setzen zu können. Und er hatte eine ganze Batterie von Sprühpistolen, mit denen er die Sets, die Kostüme oder sogar die Darsteller*innen im Bedarfsfall ansprühte. „The art director had made me a beautiful chapel; and he was very upset when I sprayed everything with green and grey paint. Then again, there’s a banquet, which was done entirely in black andd white. There were flowers on the table and (naturally) the leaves were green. I think when they saw me painting them black, they went and told Mr Zanuck I’d gone out of my mind.“

Eine Geschichte um Traum und Wirklichkeit, um Aufstieg und Fall, um Mann und Frau.

Nach der Mittagspause sah ich einen ganz bezaubernden Film: MAN’S CASTLE (Frank Borzage, US, 1933). Der Film wurde gerade restauriert und lief in einer 78minütigen Version, für die soweit möglich der (Vor-)Zensur zum Opfer gefallene Szenen wiederhergestellt wurden (mehr dazu dann im dritten Post). „Man’s Castle“ erzählt die Geschichte von Bill und Trina, Spencer Tracy und Loretta Young, einem Tagedieb (und -löhner) und einer mittellosen jungen Frau. Eine zarte, sehr fragile Liebesgeschichte, in der die schönsten Aspekte des Stummfilms fortleben, Gesten und Bilder, mit denen eine unglaubliche Zärtlichkeit, eine grosse Intimität erzeugt werden. Der stattliche Mann mit Frack und Zylinder entpuppt sich als Sandwichmann, der Werbung für eine bekannte Kaffeemarke macht. Er nimmt sie mit in eine Bretterbudensiedlung, in der sie sich gemeinsam häuslich einrichten – wobei Bill stets den vorbeiratternden Zügen nachträumt (eine Bahnlinie führte mitten durch Cortile Cascino in Palermo), deren Lärm Trina wiederum kaum ertragen kann. In einer leider nur sehr kurzen (durch die Restauration minimal verlängerten) Szenen, einer der schönsten des Filmes, zieht Bill sich aus und springt nackt in ins Wasser. Trina folgt ihm Sekunden später nach, und gemeinsam schwimmen sie zum Mond. So entsteht eine Art Sicherheit, fragil und stets bedroht, auch durch die Lebemann-Seite von Bill. Trina eröffnet Bill, dass sie schwanger ist – doch statt dass Bill auf den nächsten Zug aufsteigt, tun sie das gemeinsam. Eine Art poetischer Irrealismus und ein Sieg über die kaum auszuhaltende Realität (die Brettersiedlung liess mich auch an den Film von Lee Grant denken) – ein Triumph auch des Kinos, das uns wider jede Vernunft eröffnet, dass nichts unmöglich ist.

Im Rahmen der 16mm-Reihe lief auch ein Schwerpunkt zum experimentellen Kino aus dem Québec und aus Kanada. Von den drei Programmen sah ich das zweite, „Looking Back: Focus on Joyce Wieland“, in dem es vier Kurzfilme zu entdecken gab: PEGGY’S BLUE SKYLIGHT (Joyce Wieland, CA, 1964, 12’), WATER SARK (Joyce Wieland, CA, 1965, 14’), A & B IN ONTARIO (Hollis Frampton/Joyce Wieland, , CA, 1967–1984, 16’) und RAT LIFE AND DIET IN NORTH AMERICA (Joyce Wieland, CA, 1969, 16’). Die Filme entstanden nach ihrem Umzug von Toronto nach New York, die ersten zwei in ihrem Studio, das auch Wohnraum war. Aus Körperteilen, Alltagsobjekten, und im ersten Film der Musik von Paul Bley werden poetische Kompositionen, doch im letzten der Filme „verrät“ Wieland das Credo der New Materialists: der Film über das Leben und die Nahrung der Ratten hat ein Narrativ, ist ein Anti-Vietnamkriegsfilm, voller ironischer Brüche zwar und äusserst humorvoll, aber dennoch ein Film mit einer klaren Message. Der gemeinsam mit Hollis Frampton gemachte dritte Film – erst 1984, nach dessen Tod, montiert – dokumentiert eine Künstler*innenfreundschaft und enthält Szenen, die nah am Slapstick sind. Wieland und Frampton schleppen ihre Kameras herum, verfolgen, belauern und Filmen sich gegenseitig.

Diese ganzen „kleineren“ Programme (Stummfilme, Experimentelles, Dokumentarfilme) liefen in der Regel in den drei Sälen der Cineteca. Dort folgte auch ein Programm aus der 1923-Reihe mit drei weiteren kürzeren Filmen: LA MONTAGNE INFIDÈLE (Jean Epstein, FR, 24′), SURPRISE (Dave Fleischer, US, 9’) und GOSSETTE – Ep. 2: Le Revenant (Germaine Dulac, FR, 48′). John Sweeney (p) und Frank Bockius (d) begleiteten Epsteins Aufstieg auf den Ätna wenige Tage nach dessen Ausbruch vom 22. Juni 1923. Mit den Kameramännern Paul Guichard und Léon Donnot zog er los, um den Berg einzufangen. Gezeigt wurde eine eingefärbte 28mm-Kopie mit spanischen Zwischentiteln, frisch restauriert von der Filmoteca de Cataluña. Dann übernahm Bockius allen für „Surprise“ aus dem Fleischer Animationsstudio, das zu Tonfilmzeiten berühmt wurde, aber schon davor tätig war. Ein Clown, der in vielen Filmen auftritt und irgendwann den Namen KoKo kriegte, interagiert im Film mit dem Zeichner Max Fleischer und entflieht in die reale Welt. Max beendet aus Versehen die Romanze des Clowns in der Animation, der Clown rächt sich … und Bockius begleitete das alles kongenial. Als Hauptevent gab es dann die zweite Episode des Sechsteilers „Gossette“ von Germaine Dulac (von der auch die „Souriante Madame Beudet“ – die ich schon mal gesehen habe – und drei „illustrated records“ gezeigt wurden), ein „original, visually captivating, subtly sentimental, and exhilaratingly suspenseful crime drama, with ample servings of plot twists and cliffhangers“. In verkehrten Gender-Rollen wird das Waisenkind Gossette, deren Zieheltern und Gönner in Ep. 2 ermordet werden, zur Heldin, die den fälschlicherweise beschuldigen Sohn der beiden rettet. Diese eine Episode erlaubte nur bedingt, das ganze zu erfassen, boten aber einige abenteuerliche Einstellungen, die den Avantgarde-Background Dulacs verraten, einen guten Flow und durchaus Spannung. Sweeney war als Begleiter zudem exzellent. Als Coda gab es danach noch zwei zusammenmontierte tschechoslowakische Newsreels, in denen die am 26. März 1923 verstorbene Sarah Bernhardt gewürdigt wurde.

Im Spätprogramm folgte dann das zweite Kinugasa-Highlight, KURUTTA ICHIPEIJI (Teinosuke Kinugasa, JP, 1926), gefolgt von ONI AZAMI (Teinosuke Kinugasa, JP, 1927, Fragment von 14′). Das erste sei Kinugasas berühmtester Avantgarde-Film – entstanden, nachdem er bereits mehr als dreissig kommerzielle Filme gemacht hatte. Überlebt hat dieser unglaubliche Film nur zufällig: 1971 fand Kinugasa in seinem Schuppen einen 35mm-Print. Seither wurde er v.a. in s/w-Kopien gezeigt, doch die restaurierte Fassung, die in Bologna zu sehen war, basiert auf dem Print, den Kinugasa fand, und der blau eingefärbt war. Damit war die Originalversion zu sehen – im Gegensatz zu späteren Tonversionen, bei denen die Bildratio verändert (um Platz für die Tonspur zu machen) und die blaue Einfärbung entfernt wurde. Die Retros (Kinugasa und Mamoulian, auch letztes Jahr Fregonese schon) liefen vollständig in den grossen Sälen ausserhalb der Cineteca – also gab’s auch hier wieder das seltsame digitale Klavier. Doch Meg Morley setzte als erste die Synthesizersounds ein, die das Instrument auch bietet: Cembalo, Orgel, Rhodes, aber auch typische 70er-Synthesizer-Sphärenklänge. Damit untermalte sie den irren Bilderreigen des alles andere als linear erzählten Filmes, dessen Plot es eher zu erahnen galt. Kinugasa sagte später, den Film habe er aus dem grossen Bedürfnis heraus gemacht, wenigstens einmal einen Film „free from anyone’s control“ zu machen. Er durfte dennoch die Studios von Shochiku in Kyoto nutzen und wurde von ihnen auch finanziell unterstützt. Der Film basiert auf einer Geschiche von Yasunari Kawabata (1899-1972), der 1968 den Literaturnobelpreis gewissen sollte, ind en Zwanzigern aber noch ein Nachwuchstalent war. Bilder aus der Anstalt, in der die Frau eines von Schuldgefühlen zerfressenen, dort als Hausmeister anheuernden Mannes haust, dazu nicht nur zum Einstieg ein schnell geschnittener, äusserst filmischer Reigen von abstrakten (oder konkreten, abstrakt wirkenden) bewegten Bildern. In einer zeitgenössischen Kritik stand, der Film sei „the first filmlike film made in Japan“, seine Schönheit sei „neither theatrical nor novelistic nor painterly; it is cinematic beauty.“

Nachtrag: „Oni Azami“ ging mir zunächst unter – das war nach dem genialen Hauptfilm eine seltsame, unglücklich platzierte Fussnote. 14 Minuten Fragmente (mit serbischen Zwischentiteln) aus einem der vielen verlorenen kommerziellen Filme Kinugasas, in diesem Fall besonders, weil der Film den ersten Auftritt des damals erst 19jährigen künftigen Stars Chojiro Hayashi (1908-1984) bei Kinugasa dokumentiert, der auch in „Yukinojo henge“, „Daibutus kaigen“ (s.o.) zu sehen ist, sowie im vor ein paar Jahren in Bologna gezeigten, leider nicht wiederholten und mir unbekannten, vielleicht berühmtesten Film Kinugasasas, „Jigokumon“. Sein Spiel sei von „sweetness and even vulnerability“ ebenso geprägt wie von seinen Fähigkeiten beim Umgang mit dem Schwert. Das kann ich soweit v.a. auf Basis von „Yukinojo henge“ definitiv unterschreiben!

Fortsetzung folgt… (zu Teil 1 / zu Teil 3)

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