Mamoulian kam am 8. Oktober 1897 in Tiflis zur Welt, Sohn einer kunstliebenden armenischen Familie, studierte oder arbeitete in Moskau, Paris, London, Rochester und New York, bevor er nach Hollywood ging. Dort verantwortete er zwischen 1929 und den mittleren Dreissigern eine Reihe von Filmen voller Experimente. „There’s a sense of euphoria an hypersensitivity in his filmmaking“ schreibt Ehsan Khoshbakht im Programmbuch zum diesjährigen Il Cinema Ritrovato in Bologna (von wo auch die folgenden Zitate stammen). Danach versuchte Mamoulian, sich ins Studio-Gefüge besser einzufügen – seine frühen Filme waren nicht mehr zu sehen, als der production code etabliert war: „too many sexual innuendos and lacy negligees“.
Mamoulian kostete die technischen Möglichkeiten aus, in seinen Worten: „[the] only worthwhile innovation is the one coming from artistic necessity“ – über sein Debut „Applause“ (1929) schreibt Khoshbakht:
Though some of the techniques used in the film are not exactly new, the impeccable execution and the way match cuts, split-screen and sound collage are integrated into the narrative give the film a whole new identity. The camera, unleashed like a butterfly, traverses jerkily through ghostly scenes in which the muffled sound of the early talkies reinforces the medium’s ghostliness. An astonishing debut.
In manchen Filmen arbeitet Mamoulian wie ein Maler. „Blood and Sand“ von 1941 über den Aufstieg und Fall eines Toreros ist das beste Beispiel dafür. Goya, Velázquez oder El Greco hat Mamoulian studiert und setzt ihre Kunst um, inszeniert Tableaux des Begehrens, der Verführung, des Todes, mit Hilfe seiner Kameramänner Ernest Palmer und Ray Rennahan, die für ihre Technicolor-Arbeit mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Mamoulian erzählte später in einem Interview (Sight & Sound Nr. 3, Sommer 1961), wie er gearbeitet hatte. U.a. habe er stets eine riesige Kiste mit Schals, Taschentüchern etc. in allen möglichen Farben dabeigehabt, um damit bei den Kostümen jederzeit Farbakzente setzen zu können. Und er hatte eine ganze Batterie von Sprühpistolen, mit denen er die Sets, die Kostüme oder sogar die Darsteller*innen im Bedarfsfall ansprühte. „The art director had made me a beautiful chapel; and he was very upset when I sprayed everything with green and grey paint. Then again, there’s a banquet, which was done entirely in black and white. There were flowers on the table and (naturally) the leaves were green. I think when they saw me painting them black, they went and told Mr Zanuck I’d gone out of my mind.“
Bei anderen Filmen hat Mamoulian wie ein Musiker gearbeitet (weniger als die Hälfte seiner Filme sind Musicals), besonders eindrücklich in „Love Me Tonight“ (1932): beeindruckten die erste Szene in einem erwachenden Studio-Paris, in der sich aus Geräuschen, deren Quelle im Bild zu sehen sind (Fenster werden geöffnet, Eingänge gewischt, Nägel in Schuhe gehämmert usw.) eine sich stetig verdichtende musique concrète entsteht. Später gibt es u.a. eine Szene, in der eine Jagdgesellschaft (zu Pferd) auf Zehenspitzen davonschleicht (mit schneller gefilmten und regulär abgespielten Aufnahmen – das Gegenteil gibt es natürlich auch – , weil Maurice Chevalier, der liebenswerte Schneider und halbfreiwillige Hochstapler, den müden Hirsch in die Jagdhütte zur Siesta gebeten hat). Der Film ist – oder wirkt – komplett durchchoreographiert, auch da, wo nicht gesungen wird oder nur wenige Personen grosse Räume bespielen.
Die Rolle von Gegenständen – nicht nur den immer wieder auftauchenden Spiegeln oder den Katzen, die immer wieder als kurze Einsprengsel, als Scharniere zwischen Szenen zu sehen sind – ist ebenfalls evident. Am beeindruckendsten sicherlich die post-koitale Szene in „Queen Christina“ (1933), in der Garbo den Raum abschreitet, in dem sie – „a case of mistaken gender (she’s in drag) turns seamlessly into mistaken identity“ – , die „bachelor queen“, gerade die Liebe entdeckt hat: gleichmässig (ein Metronom half beim Dreh) schreitet Greta Garbo das Zimmer ab, ihre Hand streicht über die Gegenstände, die darin herumstehen, sie prägt sich den Raum Detail für Detail ein.
Fetische (Beine, Lingerie), Spiegel und Schatten, Statuen und Gemälde, Maskeraden und Verschleierungen … Mamoulian machte bis 1942 weiter, doch verlor sein Schaffen an Schwung. Doch auch in den schwächeren Filmen gibt es wunderbare Momente, z.B. die authentischen russisch-orthodoxen Choräle in „We Live Again“ (und die Ausstattung ist auch hier bemerkenswert). Samuel Goldwyn hatte Mamoulian in diesem Fall engagiert, um aus seiner Protégée Anna Sten einen Star zu machen – klappte nicht wirklich, Cole Porter machte in „Anything Goes“ später Scherze darüber: „When Sam Goldwyn/Can with great conviction/Instruct Anna Sten in diction/Than Anna shows/Anything goes“.
Porter schrieb die Musik zum letzten Film, den Mamoulian 1957 machte, „Silk Stockings“, eine Film-Version des gleichnamigen Musicals von 1955 und zugleich eine Neuverfilmung von Lubitschs „Ninotschka“. Fred Astaire spielt darin einen US-Produzenten, der ein Musical mit dem russischen Komponisten Peter Illyich Boroff (ein Rachmaninoff-Verschnitt?) auf die Beine stellen will. Cyd Charisse glänzt als Ninotchka Yoschenko, die den Russen und die drei auf ihn angesetzten, ebenfalls der Dekadenz anheimgefallenen Agenten (darunter Peter Lorre) heim bringen soll.
Es sollte sein letzter Film bleiben. Schon davor, 1944, wurde er bei „Laura“ von Otto Preminger ersetzt. Das wiederholte sich 1959 bei „Porgy & Bess“ (den ich echt gerne mal sehen würde – scheint ein Ding der Unmöglichkeit?), bei „Cleopatra“ (1963 – Joseph Mankiewicz übernahm, flog dann aber vor der Post-Production ebenfalls raus, die Darryl F. Zanuck verantwortete) zog er dann selber von Dannen, als alles aus dem Ruder zu laufen schien.
Rouben Mamoulian starb am 4. Dezember 1987 in Woodland Hills, Los Angeles.
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Applause (1929) ****
City Streets (1931) ****1/2
Love Me Tonight (1932) ****
Queen Christina (1933) ****1/2
We Live Again (1934) ***
Golden Boy (1939) ****
Blood and Sand (1941) ****1/2
Rings on Her Fingers (1942) ****
Silk Stockings (1957) ****
Verpasst habe ich leider „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1931), „The Song of Songs“ (1933 mit Marlene Dietrich) und „The Mark of Zorro“ (1940) sowie die knapp einstündige Dokumentation „Rouben Mamoulian – Lost and Found“ (André S. Labarthe, FR/UK, 2016). Letztere beruht wie es scheint hauptsächlich auf dem ausführlichen Interview, das Hubert Knapp mit Mamoulian 1965 in Hollywood in französischer Sprache führte (gefilmt von Labarthe). Eine ungeschnittene Version davon ist derzeit bei Youtube zu finden:
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