Jazzfest Berlin 2016 - Wadada Leo Smith, Jack DeJohnette, Globe Unity Orchestra, Steve Lehman Octet, Myra Melford, Alexander Hawkins, Julia Holter, Eve Risser, Joshua Redman, Brad Mehldau etc.
: : Donnerstag 3.11. : :
Julia Hülsmann Quartet & Anna-Lena Schnabel * *1/2
Braver, irgendwie sehr deutscher, fein-ziselierter Jazz, in sich stimmig (was im Verlauf des Festivals zum Synonym wurde für: gefiel mir nicht bzw. nur halb, aber war an sich irgendwie okay), aber doch viel zu nett, zu brav. Tom Arthurs (t), Schnabel (as), Hülsmann (p), Marc Muellbauer (b) und Heinrich Köbberling (d) steuerten je eine Komposition bei, schon im ersten Stück wurde klar, dass Schnabel die Stimme auf der Bühne war, der man mehr zutraute. Oder anders: man hofft, sie in fünf Jahren wieder zu hören, wenn der immense Druck weg ist, der an diesem Abend auf ihr lastete, und wenn sie ein paar Schritte weitergegangen ist auf ihrem musikalischen Weg (auf dem sie aber den Herren Eicher und Loch bittebitte aus dem Weg gehen mag, denn sonst klingt sie danach so wie der Rest dieses Quintetts und merkt gar nicht mehr, dass da noch mehr gewesen wäre). Schnabel spielte das Alt mit einem recht schweren Ton, blies lange Linien in einer feinen Phrasierung, die mich immer wieder an Warne Marsh denken liess. Doch sie hatte auch offensichtlich da und dort etwas Mühe – die Nervosität, die gigantischen Erwartungen, beim Eröffnungsset des Festivals auf der Bühne zu stehen, vermutlich zum ersten Mal vor so vielen Leuten … (das Festival hatte am Dienstag und Mittwoch schon in kleinerem Rahmen mit je einem Auftritt geboten). Keine Überraschung, dass Schnabels Komposition von den fünf Stücken das spannendste war. Dann Applaus, Licht an, der Deutschlandfunk überträgt live und muss schliesslich die 8-Uhr-Nachrichten pünktlich bringen – die Pause wurde dann auch sehr kurz gehalten, dass man kurz nach 20:05 wieder übertragen konnte. Hart, und meiner Ansicht nach eine völlig Fehlplanung, die sollen halt zeitversetzt senden oder mal auf die Nachrichten verzichten.
Mette Henriette * * *
Mette Henriette, die letztes Jahr auf ECM ein Doppelalbum herausgebracht hat, das ein paar Wellen schlug, trat mit ihrer grossen Formation auf: Streichquartett (im Programmheft sind zwei Celli angegeben, aber da waren nur die üblichen vier, als zwei Violinen, Viola und Cello), zwei weitere Bläser (t, tb), Bandoneon und Rhythmusgruppe (p, b, d). Die Band war mehr oder weniger im Halbkreis angeordnet, rund um Mette (erster Vorname, Henriette zweiter Vorname, Martedatter Rolvag mit Zeichen, die mir Fehlen Familienname, so dieses Konzept bei skandinavischen Namen denn Sinn macht). Die Leaderin stand im Glitterkleit mit Schmetterlingärmeln da, zunächst von hinten angeleuchtet … und ja, es gab eine richtige Lightshow, einmal kam auch ein durchsichtiger Vorhang runter, bloss die Nebelmaschine hat (wohl aus gutem Grund) gefehlt. Mette Henriette spielte Tenorsax, es gab – leider – Passagen, in denen sie Garbarek zu imitieren schien, ansonsten war nicht klar, ob bei dem ganzen Set überhaupt irgendwas improvisiert war oder ob da mehr oder minder die zweite CD des Albums aufgeführt wurde (die erste wurde im Trio mit Piano/Cello eingespielt und unterscheidet sich recht stark). Auch das in sich stimmig und für mich doch ein gutes Stück besser als die Band davor (die wohl wegen Schnabel einen halben Stern extra gekriegt hat). Dass hier pünktlich für die Neun-Uhr-Nachrichten das Licht anging, war dann nicht so tragisch … aber dieses Set war als ganzes wirklich sehr passend, die Frage stellt sich aber – im Nachhinein noch deutlicher – ob das Musik ist, die man live aufführen muss. Man kann, ganz klar, es gab auch manche schöne Details, die man im Konzert besser sehen konnte als auf Tonträger, z.B. wie die Streicher arco spielten, während reihum einer von ihnen pizzicato spielte.
Wadada Leo Smith’s Great Lakes Quartet * * * *1/2
Gross waren dann die Erwartungen an das dritte und letzte Set des Abends, an den Mann, wegen dem ich eigentlich vor allem nach Berlin fahren wollte (weil er gleich zweimal zu hören war und ich ihn noch nie live erleben konnte): Wadada Leo Smith. Sein Great Lakes Quartet besteht neben ihm selbst an der Trompete aus Jonathon Haffner (as), John Lindberg (d) und Marcus Gilmore (d). Der Unterschied zu den beiden Bands davor war vom ersten Augenblick an eklatant. Die vier legten los und es war klar, dass es hier um Alles geht. Liest man drüben im Smith-Thread seine Gedanken zur Improvisation als Überlebensnotwendigkeit nicht nur in der Musik, wird wohl auch klarer, warum dem so war. Die Musik bewegte sich nicht immer, es gab Momente der Leere, des Leerlaufes, die natürlich gekonnt gefüllt wurden, zumal von Marcus Gilmore, der mit einem unglaublich dichten, wuchtigen und zugleich subtilen Schlagzeug eine rollende Welle nach der anderen lostrat – ihm zu lauschen führte fast zu Trance. Lindberg am Bass war so gut, wie man es sich hatte wünschen können (auch ihn hatte ich nie live gehört, aber Smith hat schon öfter mit ihm gearbeitet, es gibt z.B. die feine Lindberg-CD „A Tree Frog Tonality“ mit Smith, Larry Ochs und Andrew Cyrille). Haffner, der unbekannte auf der Bühne, war klasse, passte mit seinem zupackenden Spiel und satten Ton sehr gut neben Smiths unglaublich klare, reine, glänzende Trompete. Zum Abschluss machte Smith eine längere, launische Ansage, erzählte von „noise“ und „silence“ ( @atom und @vorgarten korrigieren bzw. ergänzen bitte!), stellte die Musiker vor und meinte „my name is Wadada, whatever that means“, aber er wisse, dass der Name sechs Buchstaben habe, worauf er ihn auch noch pflichtbewusst buchstabierte …
Ein toller Abschluss eines insgesamt gelungenen Abends – schon an diesem ersten Abend wurde klar, dass der künstlerische Leiter Richard Williams einen Plan hatte, was das Programmieren der Abende betrifft. Sein Schwerpunkt dieses Jahr war Jazz als „Kunst der Konversation, des Austauschs neuer Ideen zwischen Einzelnen, Generationen, Nationen, Geschlechtern“ (aus dem Einführungstext des Programmheftes). Dass auch ein bewusstes Gleichgewicht zwischen Frauen und Männern (zumal was die Bandleader betrifft) geschaffen wurde, lässt mich aber gerade bei diesem ersten Abend durchaus nachdenklich werden: trat Smiths Band mit einer „harten“ männlichen Haltung auf, die dann quasi die „feine“ weibliche Art der beiden Acts davor wegfegte? Ich glaube nicht zu irren, wenn ich das resolut verneine. Gerade im Dialog, im aufeinander hören aber auch warten können lag die grosse Stärke von Smiths Musik. Echten Dialog gab es hingegen in den beiden anderen Bands kaum. Bloss weil die Texturen von Hülsmann so raffiniert sind und der Drummer hübsch und leise klöppeln kann, während das Klavier kleine Nichtigkeiten aneinanderreiht, ist das noch kein Dialog. Bei Mette Henriette ist der Dialog quasi in der Komposition angelegt, findet so gesehen auch statt, aber auf der Bühne hätte es als Playback mit Saxophonsolistin den gleichen Anteil an Kommunikation gegeben.
: : Freitag 4.11. : :
The Jazz Loft According to W. Eugene Smith
Freitagnachmittag besuchten wir die Vorführung von Sara Fishkos leider recht schlechtem Film über das Jazz Loft und den Photographen W. Eugene Smith. Dass dieser grossartige Photos (besonders Kriegsphotographien) gemacht hat, dürfte ja bekannt sein, seine krasse Lebensgeschichte (schwer verwundet gegen Ende des 2. Weltkrieges, später Familie sitzen gelassen, um in dieses Loft zu ziehen, dann manisches Aufzeichnen von allem, von den Jams über Radio und Fernsehen bis hin zu Telephongesprächen, das ganze Treppenhaus mit Mikrophonen versehen etc.) kannte ich nicht, aber der Film wollte viel zuviel reinpacken – er war hektisch und überfrachtet mit Kommentaren und schnell geschnittenen Photos usw. Über den Jazz im Loft (über Smith lebte Hall Overton, dessen Loft Smith teils auch mit Mikrophonen versehen hatte, das fand aber nur am Rande statt im Film) erfuhr man nicht sonderlich viel, das beste waren noch die Proben zu Monk at Town Hall (arrangiert in enger Zusammenarbeit mit Monk von Hall Overton). Wie ein Overton-Schüler erzählte, dass direkt am Ende seiner Lektion Monk gekommen sei und die beiden am Klavier die Stücke ausgecheckt hätten, Monk Phrase für Phrase vorgespielt und wiederholt, Overton alles auf Notenpapier transkribiert etc., das war schon sehr faszinierend zu hören. Es gab dann auch kurze Schnipsel (inkl. Photos dazu) von den Proben mit der Band – das wäre auch mal was für eine solche “Session Reels“-Veröffentlichung wie gerade von Miles erschienen …
Joshua Redman – Brad Mehldau Duo * * *
Der zweite Abend begann mit dem Posterboy und dem abgetakelten Junkey, perfekter Schwiegersohn und Schwiegerelternschreck, zusammen spielten sie geschliffenen Postbop, Charlie Parker-Tunes („Cheryl“ war wohl mein Highlight) und mehr. Redman war leider (ich war durchaus offen für eine positive Überraschung) viel zu souverän-geschliffen, als dass richtig was hätte entstehen können, den besten Dialog gab es bei den Klavier-Soli zwischen Mehldaus beiden Händen. Die beiden kamen trotz inszenierter Lockerheit überaus sympathisch rüber und das merklich jüngere Publikum des Abends dankte es mit grossem Applaus. Der Deutschlandfunk hatte das Nachsehen, die beiden spielten das wohl längste Set des Festivals (wohl um die 80 Minuten) und durften auch eine Zugabe spielen. Was bei Redman so ermüdend war: dass er in jedem Solo ALLES spielen musste, was er kann. Kein Mut zur Lücke, kein Gespür für Timing, kein Plan, wie man Pausen, wie man Stille einsetzen kann. Anders Mehldau, dem ich solo wohl gerne mal wieder im Konzert lauschen würde, er hatte naturgemäss weniger Raum, aber seine besonderen Schattierungen schimmerten immer wieder durch.
Globe Unity Orchestra * * * *
Danach folgte die Gruppe, auf die ich am meisten gespannt war – und klar: Mut zur Lücke braucht man da nicht zu fordern, denn Lücken gibt es in diesem Universum schlichtweg nicht. 50 Jahre nach dem ersten Auftritt des Globe Unity Orchestra im Rahmen des Jazzfest Berlin 1966 trommelte man einige der damals beteiligten sowie Musiker jüngerer Generation zusammen. Das Line-Up muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Alexander von Schlippenbach (p), Paul Lovens & Paul Lytton (d), Evan Parker (ss), Ernst-Ludwig Petrowsky, Henrik Walsdorff (as), Daniele D’Agaro, Gerd Dudek (ts), Rudi Mahall (bcl), Manfred Schoof, Tomasz Stanko, Jean-Luc Capozzo, Ryan Carniaux (t), Axel Dörner (slide t), Wolter Wierbos, Christoph Thewes, Gerhard Gschlössl (tb), Carl-Ludwig Hübsch (tuba). Die ganze Truppe stand im Halbkreis auf der Bühne, links Schlippenbach am Klavier, rechts Lovens an den Drums, nur Lytton war seltsamerweise in die zweite Reihe relegiert worden. In der Mitte gab es in paar Solo-Mikrophone, zu denen sich die Bläser reihum hinbewegten, sich einst da ihren Platz aber bald wieder gegen die Meute verteidigen mussten – zunächst Luten mit Gehstock, dann die beiden Veteranen Dudek und Schoof, danach die jüngere Garde, Mahall natürlich als einziger dreimal. Es gab auch immer wieder etwas Bewegung im Halbkreis, Mahall ging zu den Posaunen rüber, die Trompeten spielten ihr Tutti ohne Dörner, der sich dann zu Posaunen und Tuba gesellte … insgesamt ein tolles, hochenergetisches Set, in dem aber zuwenig Platz war für ruhigere Momente – der beste: Parker am Sopran, wie üblich mit Zirkuläratmung – für einen Moment schien alles stillzustehen. Beim Publikum kam diese rohe Musik nicht gut an, ich hatte den Eindruck, dass viele v.a. wegen des Duos zu Beginn gekommen waren (direkt vor uns sassen zwei, die wohl statt Globe Unity zu hören essen gingen, aber nach zehn Minuten Melford waren sie dann auch schon wieder weg).
Myra Melford’s Snowy Egret * * * *
Das letzte Set des Abends las sich auf dem Papier spannend, aber auch so, dass ich keine klare Erwartung hatte: Ron Miles (cor), Myra Melford (p), Liberty Ellman (g), Stomu Takeishi (ac b-g), Tyshawn Sorey (d), David Szlasa (video). Fangen wir gleich mit den Video-Projektionen an, die wie Melfords Stücke als Erkundung der „Schriften des urugayischen Journalisten, Essayisten, Fabulisten und Romanciers Eduardo Galeano (1940-2015)“ zu verstehen sind. Die Bilder waren von einer hart auszuhaltenden Plattheit, aber nach ein paar Minuten hatte man sie verdrängt, schwankte mit dem Blick höchstens nochmal auf die Leinwand hinter der Bühne, um sich zu amüsieren … musikalisch hatte die Band es allerdings in sich. Das Quintett ging wohl so behutsam zur Sache wie Hülsmann/Schnabel am ersten Abend, aber man bewegte sich hier in der Schwergewichtsklasse. Soreys gebändigte Energie war beeindruckend, wie dieser gewaltige Mann so präzise, so flink und zugleich so kontrolliert spielen kann, ist ein Ereignis zu beobachten. Miles‘ Kornett durchmass den Raum, während Ellman und Takeishi von Sorey auf Trab gehalten wurden, aber auch ihr längst erprobtes Zusammenspiel (immerhin seit 2001 in Henry Threadgills Band „Zooid“) auf neue Spitzen trieben. Takeishi wirkte ein wenig wie ein Derwisch, in weisse gewandet, barfuss, mit seiner akustischen Bassgitarre herumtänzelnd. Ein sehr schönes Set, bei dem bei mir allerdings die Müdigkeit ihren Tribut forderte …
: : Samstag 5.11. : :
Angelika Niescier – Florian Weber Quintet * *
Der Auftakt des dritten Abends brachte, ich kann es nicht anders sagen, den Tiefpunkt. Links am Klavier sass Co-Leader Florian Weber, davor Angelika Niescier (as), und daneben, als gäbe es eine unsichtbare Mauer auf der Bühne, standen Eric Revis (b) und vor ihm Ralph Alessi (t), am rechten Rand dann Gerald Cleaver (d). Gerade auf Cleaver hatte ich mich gefreut, aber die drei Sidemen versprachen überhaupt einiges. Leider war das Material, das Niescier und Weber ihnen vorlegten, eine ziemliche Frechheit. Schwierig zu spielen, aber ohne Fleisch am Knochen, Ausgangspunkte für eine Art Ego-Show von Niescier, die sich in jedem Solo erneut in eine Intensität steigerte, die mir doch recht kalkuliert, abgekartet vorkam. Daneben setzte Alessi ein paar solistische Höhepunkte, während Weber nicht viel bot und die Rhythmusgruppe leider über das ganze Set hinweg an der kurzen Leine gehalten wurde, Cleaver wirkte fast schon wie sediert, erst gegen Ende gab es fast einmal eine Art Dialog mit Niescier – aber das war auch der einzige kommunikative Moment des Sets, wenn man mal von den etwas peinlichen Ansagen der beiden Co-Leader absieht. Dieses Set war am Ende nicht einmal in sich stimmig; da waren links die von sich selbst in allem Masse eingenommenen Leader und rechts die drei ihnen musikalisch überlegenen Lohnarbeiter, die ziemlich lustlos am Knochen herumnagten, den man ihnen herübergeworfen hatte.
In Sachen peinliche Ansagen noch dies: Lieber Richard Williams, einfach Englisch reden und die Wortschleudern vom Radio bitte von der Bühne verbannen; soviel Ignoranz in so hübschen Floskeln ist hart zu ertragen!
Nik Bärtsch – hr-Bigband * * *
Weiter ging es dann mit Nik Bärtsch und dessen Band Ronin (Sha-bcl, Björn Meyer-elb, Kapsar Rast-d) und der hr-Bigband unter der Leitung von Jim McNeely, der auch für die Arrangements von Bärtschs Stücken verantwortlich zeichnete. Das war das nächste „stimmige“ Set, auch wenn die Big Band letztlich wenig zum unterkühlten Minimal-Funk Bärtschs zutragen konnte. Die Arrangements waren sparsam aber durchaus gelungen, der solistischen Beiträge dankenswerterweise nur wenige, das ganze groovte ganz flott, Gitarrist Martin Scales fand sich hervorragend ins Geschehen ein (während der Percussionist der Band, Claus Kiesselbach, leider absurd laut verstärkt war, seinen Triangel hörte man lauter als Rasts Snare). Bärtsch kam in seinen Ansagen sympathisch rüber und erzählte die Geschichte, wie bei seinem ersten Auftritt am Jazzfest vor 10 oder 15 Jahren eine Nebelmaschine bestellt gewesen sei, stattdessen aber eine Rauchmaschine geliefert wurde, und wie sie dann das Publikum zuqualmten … Insgesamt war das aber sowas wie „minimal music for the people“ und man hatte es auch wenn man sehr gutmütig ins Konzert ging, nach fünfzehn oder zwanzig Minuten durchschaut. Doch beim Publikum kam es sehr gut an.
Jack DeJohnette – Ravi Coltrane – Matthew Garrison * * * *1/2
Wie am ersten Abend lag die Hoffnung auch hier vor allem auf dem Abschluss-Set, und wie am ersten Abend wurde die Hoffnung nicht enttäuscht. Ebenfalls wie bei Smith gab es auch hier Momente, in denen die Gruppe wartete, in denen die Musik Atem holte, sich neu sammeln musste, bis zum nächsten „Ereignis“. Diese stark mit Chicago und der AACM verbundene Spielhaltung finde ich immer noch sehr beeindruckend. In manchem ist sie das genaue Gegenteil der „play it all“-Spielweise eines Redman, einer Niescier, ein Aushalten-Könnnen, das nicht künstlich forciert, aber blitzschnell reagiert und offen ist, um in jede Richtung weiterzulaufen – was ja wiederum kaum geht, wenn man pausenlos vorwärts hetzt. DeJohnette sass anfangs ganz kurz am Klavier, spielte etwas schnörkelig, während Coltrane am Sopran ein paar Töne setzte und Garrison mit seinem elektrischen Bass, den Samplers und sonstigem Equipment langsam in die Gänge kam. Am Ende war das ein unglaublich tolles Set, das mich völlig beglückt ausspuckte, ohne jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Wie die drei aufeinander reagierten, wie DeJohnette auf die Elektronik, die Samples und Klangwälle von Garrison einging, mit noch so kleinen Verschleppungen und Verschiebungen, das war ganz grosses Kino – dargeboten aber in der kleinen Geste der Beiläufigkeit. Meisterschaft, die sich nicht gross zu verkaufen braucht, wer hören will, für den ist sie einfach da – wunderbar. Noch knapper als bei Smith ist das an den fünf Sternen vorbei – doch an sich verdienen, wie vorgarten richtig meinte, beide die vollen Fünf, allein schon wegen der Haltung.
Lucia Cadotsch Trio *
Wir sassen danach noch etwas im Foyer im ersten Stock herum, tranken ein Glas Wein, ich hoffte, noch etwas mit Alexander Hawkins quatschen zu können, der schon am Vorabend anwesend war (er musste sich ja wenigstens ein paar Tage mit der Orgel in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche befassen, bevor er Sonntagnachmittag dort mit Smith spielen würde). In dieses Foyer wurden wohl alle Konzerte live übertragen, mit grosser Leinwand und ziemlich guter Soundanlage. So liessen wir dann das ganze Set von Lucia Cadotsch über uns ergehen, los ging es mit „Don’t Explain“, später folgte gar noch „Strange Fruit“ (früher traute ich mich nicht, es zu singen, aber alles ist immer noch so schlimm) und auch „Moon River“ durfte nicht fehlen – Fazit: grauenvoll. Ich wusste, was einen da erwartet, vorgarten hat’s eiskalt erwischt. Aber gut, wir hätten ja anderswo was trinken können …
Ein Aspekt aber, weil es halt diesen Gender-Schwerpunkt gab (im grossen Programmheft oder Begleitheft gab es auch einen ziemlich oberflächlichen und in manchen Formulierungen geradezu absurd linkischen Artikel von Wolfram Knauer über die „fragwürdige Männlichkeitsästhetik im Jazz“): bei Cadotsch waren die ganzen alten Männer, die an diesem dritten Abend wieder in erschlagender Mehrheit anwesend waren, beglückt. Das tut nicht weh, das ist hübsch anzugucken – und schon sind die Geschlechterklischees wieder da, und das gleich noch in extremis. Frau darf singen und hübsch ausschauen, viel mehr ist nicht.
: : Sonntag 6.11. : :
Wadada Leo Smith & Alexander Hawkins * * * * *
Um 15 Uhr gab es in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ein Duo-Konzert: Alexander Hawkins spielte an der Kirchenorgel mit Wadada Leo Smith (Trompete). Ein grossartiges Set, knapp und präzis, sehr frei, und faszinierend was das Zusammenspiel der beiden betraf. Smith glänzte einmal mehr mit diesem unglaublich strahlenden, fast stechenden Ton, Hawkins liess die Orgel mächtig aufklingen aber auch leise säuseln. Die sublimierten Blues-Wurzeln von Smith kamen in diesem Rahmen noch stärker zum Vorschein als mit seinem Quartett. Für mich das Highlight des Festivals, aber ich finde gar nicht die passenden Worte.
Spät am Abend hatte ich die Gelegenheit, Smith die Hand zu schütteln und mich bei ihm zu bedanken, als ich mich nur rasch von Hawkins verabschieden wollte.
Artist talk mit Steve Lehman, Eve Risser, Wadada Leo Smith
Wir gingen dieses mal schon eine Stunde früher ins Festspielhaus, um den halbstündigen Artist Talk mit Risser, Lehman und Smith anzuhören. Die drei äusserten sich dazu, wie sie es anstellen, ihre Musiker auf Trab zu halten, nicht in vorgefertigte Muster zu fallen, und nach kurzer Zeit schon richtete Risser sich an Wadada und dieser erteilte ihr quasi öffentlich eine Lektion, die geradezu rührend war. Er wiederholte dabei auch ein paar Dinge, die er in seiner Absage ein paar Tage zuvor gesagt hatte, gab sich dieses Mal aber Mühe, sich halbwegs verständlich zu äussern. Lehman ging dabei etwas unter, aber neben den beiden anderen wirkte er eh nicht sonderlich kommunikativ (und seine Baseball-Cap blieb natürlich immer auf).
Julia Holter & Strings * * *1/2
Den Auftakt des letzten Abends machte Julia Holter – wir sassen nun erstmals unten, ziemlich weit hinten. Ein guter Posten, wie sich herausstellte, um den Leuten beim Verlassen des Saales zuzuschauen („go to Glastonbury“ rief einer). Holter stand vorne an ihrem Keyboard, regungslos, nur zwischen den Stücken dann und wann ein Wort an die Band. Im Gegenteil zu einem Sitznachbar, der am Ende des Sets meinte, „wenn sie doch wenigstens singen könnte“ hatte ich an Holters Fähigkeiten keine Zweifel. Das Konzert, das insgesamt ähnlich statisch war wie jenes von Mette Henriette (und eine kleine Lightshow gut hätte gebrauchen können), hat mir erstmals einen Zugang zu Holters Musik geöffnet … die vier Alben sind jetzt unterwegs, mal schauen, ob es denn jetzt klappt. Schwachpunkt wenigstens in diesem Rahmen war Drummer Corey Fogel (der beim Spielen auch Stricken kann), aber insgesamt wirkte die um zwei Streicher (Viola ist schon in der Stammbesetzung, Violine und Cello stiessen dazu – keine Namen im Programmheft) ziemlich gut eingespielt.
Steve Lehman Octet * * * *1/2
Das erwartete Highlight fand sich diesmal wie am zweiten Abend in der Mitte – und wie am zweiten Abend sollte auch diesmal das Abschluss-Set eine höchst erfreuliche Überraschung werden. Steve Lehmans Oktett ist seit einigen Jahren unterwegs und hochkarätig besetzt, einzig der Drummer (nochmal ein anderer als im Programm angekündigt) war nicht vertraut, der reguläre Drummer der Gruppe ist Sorey, der mit Melford in Berlin spielte. Lehman (as), Mark Shim (ts), Jonathan Finlayson (t), Tim Albright (tb), Jose Davila (tuba), Chris Dingman (vib), Drew Gress (b), Cody Brown (d). Lehman liess zunächst anderen den Vortritt. Mark Shim, in den 90ern kurz als talentierter Newcomer gehandelt (zwei Alben auf Blue Note, ein drittes an der Seite von Greg Osby, Jason Moran und Stefon Harris, dann nichts mehr), war die coolste Sau auf der Bühne mit Wollmütze und einem nonchalanten Auftreten, das kaum zu toppen ist … aber mit einem tollen Tenor, klanglich von Joe Henderson geprägt. Finlayson hatte mich schon im Januar im Quintett von Muhal Richard Abrams beeindruckt (mehr dazu weiter oben in diesem Thread). Beide glänzten sie auch im Lehman Octet mit tollen Soli, aber als der Leader dann seine ersten Töne blies (plötzlich verstand ich, warum Jackie McLean ihm wichtig ist), wurde die Musik doch nochmal auf ein anderes Level gehoben. Die Bezüge zur Spektralmusik erschliessen sich mir noch nicht, da ich diese noch überhaupt nicht kenne, aber mit Andrew Hill oder Bobby Hutcherson (der ja mit McLean ein paar phantastische Aufnahmen gemacht hat) gibt es doch auch Referenzen innerhalb des Jazz. Der einzige Fehler dieses mitreissenden Sets war seine Kürze, vielleicht auch die konstante Nervosität der Musik, die mich allerdings nicht störte, es gab durchaus Momente der relativen Ruhe, aber ein weniger dichtes Set mit etwas mehr Luft könnte wohl nochmal toller sein. Die Kürze mag auch am Kalender gelegen haben, handelte es sich doch um das fünfte und letzte Konzert einer fünftägigen Tour mit den Stationen: Amsterdam, Malaga, Tampere, Vincennes und Berlin. Wir waren übrigens nach dem Beinah-Tumult bei Holter überrascht, wie gut Lehmans doch etwas kühle und überaus anspruchsvolle Musik ankam. Die Beobachtung, die sich durchzog war, dass Sets, die für jeden sichtbar/hörbar technisch Anspruchsvolles boten (vgl. auch Bärtsch/hr, aber durchaus auch Hülsmann/Schnabel und Weber/Niescier) generell besser aufgenommen wurden als Sets, bei denen mit dem Können nicht so geprotzt wurde (DeJohnette, Smith) oder bei denen das Augenmerk auf ganz anderen Dingen lag (Holter, Globe Unity, irgendwie auch Mette Henriette, aber die wiederum ist so hübsch, dass sie dennoch gut ankam … there we go again).
Eve Risser’s White Desert Orchestra * * * *1/2
Danach einige Skepsis … ob die sympathische junge Frau von vorhin der Aufgabe gewachsen ist, nach diesem Feuerwerk zu reüssieren? Der Einstieg verlief zunächst etwas zögerlich, doch das erwies sich rasch als Programm, es gab Musik mit weiten Bögen, die grosse Intensität aufbaute und mit zahlreichen unerwarteten Klängen aufwartete, die in den intensivsten Momenten funky as hell sein konnte, oder auch frei und lärmig wie zuvor bei Globe Unity gehört. Die existentielle Erfahrung, die Risser davor im Gespräch mit Smith preisgegeben hatte, schien dieser Musik tatsächlich innezuwohnen. Risser selbst sass am linken Rand am teils präparierten Flügel, in der hinteren Reihe sassen Julien Desprez (elektrische und akustische Gitarren mit Effekten), Sylvain Darrifourcq (allerlei Schlaginstrumente, u.a. eine aufgehängte riesige Trommel, aber auch ein Drum-Kit) und Fanny Lasfargues (an der verstärkten akustischen Bassgitarre – dasselbe Instrument, wie Stomu Takeishi es benutzt). In der vorderen Reihe standen Trompeter Eivind Lonning (er spielte die übliche Trompete in B und eine etwas kleinere, höhere, vermutlich eine in C, aber ich weiss es nicht), Fidel Fourneyron (Posaune), Benjamin Dousteyssier (Tenor- und Basssaxophon), Antonin-Tri Hoang (Altsax, Klarinette, Bassklarinette), Sylvaine Hélary (Querflöte, Piccolo … wohl auch noch Alt- und Bassflöte) und Sophie Bernado (Fagott). Im Programmheft liest man Floskelhaftes wie, Risser versuche (man gibt das als Zitat von ihr aus) „ein Gleichgewicht zwischen maskulinen und femininen Energien herzustellen“ oder: „Ich werfe mich vor das Publikum, völlig ungeschützt“. Ersteres passte wohl gerade gut ins Konzept, doch wirkte die Gruppe tatsächlich sehr ausgeglichen, die Piccolo-Flöte konnte sich ebenso Gehör verschaffen wie das Bass-Saxophon (whoah!), von der enorm coolen Bühnenpräsenz Fanny Lasfargues‘ ganz zu schweigen. Risser selbst mag damit kokettieren, sich ungeschützt vor das Publikum zu werfen … sie hat ja diese ganze Band um sich, die sie gewissermassen schützt, aber dennoch stimmt es tatsächlich, was da zu hören ist, atmet diese existentielle Erfahrung, über die sie davor gesprochen hatte, setzt sie um in Töne – und hat mich am Ende sehr glücklich zurückgelassen (vorgarten wird feststellen, dass ich im Rating noch einen halben Stern hoch bin, seitdem ich bei Bier und Vodka Sternchen hinten ins Programmheft gekritzelt hatte, ansonsten sind die Ratings mit einer Woche Abstand noch die gleichen). (Hörproben auf Soundcloud)
Nachtrag:
Ein paar weitere Dinge, die unbedingt erwähnenswert sind: das Sopranino-Solo von Ravi Coltrane, der abstrakte Blues im letzten Drittel oder so von Smith/Hawkins, das feine Kornett von Ron Miles.
Das Festival als ganzes zu erleben war eine tolle Erfahrung: eine Art „Leistungsschau“, ein Schaulaufen des aktuellen Jazz in fast seiner ganzen Breite (es fehlte am Avantgarde-Rand doch das eine oder andere, finde ich, aber im Vergleich mit dem, was das Jazzfest in den letzten 15 Jahren oder so bot, war das schon schwer in Ordnung, aber es ist ja recht klar, welche Acts ich weggelassen hätte, u.a. die Publikumslieblinge Redman/Mehldau, bzw. ich hätte Mehldau halt einfach solo gebucht … übrigens habe ich wegen meiner klaren Worte zu Niescier ja schon Haue einstecken müssen, ich werde mir den Mitschnitt noch einmal anhören, irgendwann, aber mit den Bildern im Kopf, dem in der Tat fast kommandierten Zusammenstehen am Schluss, wird es mir schwerfallen, da offen für eine andere Meinung zu sein – Weber hat übrigens in meiner Erinnerung kein einziges Solo gespielt. Dem war gewiss nicht so, aber da kam halt einfach wirklich gar nichts, als Gedankenexperiment würd ich die vier ohne Weber mal ein Programm mit Dolphy-, Ornette-, Ken McIntyre-, Cherry-, Mingus-Stücken spielen lassen und schauen, ob das nicht besser käme … fände es auch interessant, Alessi mal in einem solchen, wie soll ich sagen, etwas weniger polierten Rahmen zu hören – im besten Fall wäre das Material natürlich eigenes, aber das scheint ja nicht so gut zu klappen).
Bei DeJohnette hatten wir ja überhaupt das Gefühl, dass da so ziemlich planlos drauflosgespielt wurde, in der Erwartung dessen, was halt kommen würde, bzw. im Wissen darauf, dass etwas kommen würde. Das war ja auch immer wieder der Fall, und tatsächlich hat mir dieses Konzert dann doch besser gefallen als Dir, und dabei war es das, wo Du mich danach etwas überrascht gefragt hattest, ob es mir denn gefallen habe – you bet!
Bei Risser fand ich ordentlich viel Improvisation dabei, vielleicht nicht im üblichen Jazz-Sinn („Solo“, obwohl die gab es ja durchaus auch, von allen Musikern wenigstens eines, zu Beginn z.B. der tolle Trompeter, danach die Fagottistin und die Flötistin), aber es passierte, so dünkte mich, im vorgegebenen Rahmen doch einiges Spontanes, z.B. in der langen freien Passage von Desprez an der elektrischen Gitarre mit Effekten, aber auch vom Bass oder vom höchst unkonventionelle Schlagzeug kamen immer wieder überraschende Impulse. Es war aber stark Gruppenmusik, doch als solche finde ich deutlich agiler und aktiver als jene von Mette Henriette, die ja teils schon sehr statisch war und manchmal doch an Filmmusik denken liess.
Was Lehman betrifft, ja, das war definitiv deutlich druckvoller als auf CD. Auf CD rechne ich das, wegen der obigen Bemerkung, zu den „etwas polierten“ Sachen – geht wohl irgendwie im Studio bei dieser Musik gar nicht anders, da sind alle permanent auf heissen Kohlen und mit den Zehenspitzen am Boden. Live müssen sie dann halt mal loslassen und das ging auch hervorragend, auch die Bühnenpräsenz (oder -absenz) der Musiker gefiel mir gut, wie sie irgendwann verschwanden, Coleman Lehman am Ende unbegleitet spielte, während Dingman sein Vibraphon umbaute (um auch noch für 10 Sekunden zu verschwinden, bevor alle wieder ihre Plätze einnahmen). Das hatte in echt etwas sehr viel Organischeres als auf CD, man sieht halt, dass diese unfassbare Musik tatsächlich direkt vor der eigenen Nase Form annimmt. Drummer Cody Brown vergass ich auch noch zu erwähnen, denn für Tyshawn Sorey einzuspringen ist ja an sich nichts, was einem Drummer gut bekommen kann. Das klappte aber hervorragend, Brown spielte präzise, unglaublich differenziert, oft fast etwas leise, aber dennoch äusserst druckvoll. Das Wechselspiel zwischen Ensemble und Solo fand ich übrigens ganz besonders reizvoll, auch wenn es schon stimmt, die Soli sind eigentlich auch nur eine Facette mehr im Ganzen, nicht wichtiger als die Verzahnungen und Verschiebungen zwischen Tuba, Bass und Drums oder die schwebenden Sphärenklänge vom Vibraphon. (Wird es mal ein Line-Up mit Ondes martenot geben? Kaum vorstellbar, aber geil wär’s schon.) Dennoch fand ich gerade die Soli grossteils hervorragend, nicht nur jene von Lehman selbst sondern auch die von Finlayson, Shim, Albright … die gingen auch jeden Moment aufs Ganze, aber es hatte im Rahmen dieser ohnehin enorm verdichteten Musik nie den verheerenden Effekt wie es bei Redman oder Niescier der Fall war.
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