Il Cinema Ritrovato 2024 - Festivalbericht


Cinema Lumière, Bologna (Fotos von Pietro Germi's "Sedotta e abbandonata" und Kote Mikaberidze's "Chemi bebia")


Übersicht:

1) Prolog, Auftakt und Dokumentationen: Leonor Areal, May First Media (Josh Morton/Nick Doob), Haskell Wexler, ein Besuch im Caffè Pathé (kurze Stummfilme) und The Past Is a Ghost Town (Filme über eine Fahrt nach Somalia sowie über Antigua und Venezuela) 
2) Raritäten aus dem Osten und aus dem Süden: Kote Mikaberidze, Ester Krumbachová, Albert Samama Chikli
3) Cinemalibero: Montxo Armendáriz, Lino Brocka, Assia Djebar, Mohammad Malas, Sarah Maldoror, Ossama Mohammed, Nirad Mohapatra, Marva Nabili, Amir Naderi, Ousmane Sembène/Thierno Faty Sow
4) Journeys into Night: The World of Anatole Litvak
5) Undercurrents of Modernity: The Cinema of Kozaburo Yoshimura
6) Gustaf Molander – The Actresses’ Director
7) Klassiker, Vintage Prints und viel Musik: Chantal Akerman, Tod Browning, Jacques Demy, Stanley Donen/Gene Kelly, Julien Duvivier, John Ford, Luca Guadagnino, Martin Scorsese, Seijun Suzuki, François Truffaut, Berthold Viertel
8) Coda: One More Day of Dietrich: Josef von Sternberg
9) Liste der Filme 

* * * * *

1) Prolog, Auftakt und Dokumentationen

Zurück vom Il Cinema Ritrovato in Bologna, der 38. Ausgabe des Festivals, das für mich der Inbegriff vom "Paradiso die cinefili" ist, wie eine der Programmschienen heisst. Diese sind etwas unübersichtlich und das ist vielleicht die eine Kritik, die aber in meinen Augen keine zu grosse Rolle spielen kann. Es gibt ein paar "special events" (dieses Jahr u.a. Besuche von Wim Wenders, Alexander Payne oder Damien Chazelle), dazu die Schienen "The Time Machine" (dieses Jahr Filme von 1904 und "A Hundred Years Ago: 1924", die "Documents and Documentaries"-Schiene sowie eine Reihe mit Filmen mit Delphine Seyrig), "The Space Machine" (dieses Jahr neben der regulären "Cinemalibero"-Reihe auch Retrospektiven von Kozaburo Yoshimura, Gustaf Molander und Parajanov sowie eine Reihe namens "Dark Heimat" mit ungewöhnlichen Heimatfilmen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit), und eben: "Il Paradiso dei cinefili" bzw. "The Cinephiles' Heaven" (dieses Jahr mit Retrospektiven von Anatole Litvak und Pietro Germi, einer Reihe mit Filmen von Marlene Dietrich, der Reihe "The Colours of Small Gauge Cinema" sowie der stets grössten Reihe, "Recovered and Restored").

Die Zahlen sind eindrücklich: 480 Filme (inkl. unzählige Kurzfilme) aus 35 Ländern, von über 140 Archiven und Leihgeben zusammengetragen – 4 Festival-Leiter*innen, 12 Kurator*innen, 81 Mitarbeiter*innen der Cineteca sowie des neuen Spielortes, dem vor kurzem wiedereröffneten wunderbaren Cinema Modernissimo, dazu 110 "collaborators" und über 300 "volunteers", die für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Über 5700 Festivalpässe wurden verkauft, an Leute aus 72 Ländern. Und es ist wirklich schön, dass ein solches Festival gedeihen kann. Ich war zum zweiten Mal in Folge beim ganzen Festival (inklusive Kinobesuch am Vorabend der Eröffnung und zehntem nachgeschobenem Marlene-Dietrich-Tag und ein paar weiteren Besuchen des Open Airs auf der Piazza Maggiore, das über mehrere Wochen läuft), nachdem ich vor zwei Jahren ca. die Hälfte der Festivaltage besucht hatte (das ging damals noch ohne Festivalpass, was schon 2023 nicht mehr möglich war) und ein paar Jahre zuvor zufällig während einer Urlaubsreise auf das Festival aufmerksam wurde, als ich für ein paar wenige Vorstellungen Karten kaufte.

Los ging es am Samstagmittag im Cinema Modernissimo mit einem Besuch im Caffè Pathé. Doch erst sagten die vier Leiter*innen des Festivals je ein paar Worte: Cecilia Cenciarelli (u.a. für die Cinemalibero-Reihe verantwortlich), Gian Luca Farinelli (Direktor der Cineteca), Ehsan Khoshbakht (er programmiert u.a. die "Classic Hollywood"-Schiene: nach Hugo Fregonese und Rouben Mamoulian dieses Jahr Anatole Litvak) und Mariann Lewinsky. Zu sehen gab es nach einer launigen Einleitung durch Pénélope Riboud-Seydoux, die Direktorin der Fondation Jérôme Seydoux-Pathé, fünf stumme Kurzfilme, von Daniele Furlati am Klavier begleitet, und ein kurzes Newsreel über das jährliche Kellner-Wettrennen in Paris (gendern musste man da noch nicht, und die Geschlechterklischees waren auch in den Kurzfilmen teils schwer zu ertragen): Première sortie d'un collégien (Louis Gasnier, Frankreich, 1905), Les Chiens policiers (Lucien Nonguet, Frankreich, 1907), Le Cake-Walk forcé (Frankreich, 1907), La Tournée des Grands Ducs (Léonce Perret, Frankreich, 1910), Jobard est demandé en mariage (Émile Cohl, Frankreich, 1911), La Course des garçons de café (Frankreich, 1949)

Schon am Vorabend war ich für Onde está Pessoa? (Leonor Areal, Portugal, 2023) zum ersten Mal ins Cinema Modernissimo gepilgert. Der gut stündige Film bietet Archivarbeit vom Feinsten. Ausgangspunkt sind fünf Minuten Filmmaterial von 1913, aufgenommen vor einem Konzertsaal nach einem Symphoniekonzert. Was zunächst wie anonyme Bilder wirkt, wird zum Leben erweckt. Areal beginnt, einzelne Personen aufzuspüren. Die Menschen, die aus dem Saal strömen, scheinen von der Kamera überrascht, sie blicken direkt ins Bild, machen Faxen, Gesten, inszenieren sich, erlauben sich einen Scherz, kommen nochmal zurück usw. Areal zoomt rein in die Bilder, lässt sie in Zeitlupe laufen, skippt vor und zurück und erzählt dazu die Geschichten der Menschen und ihre Beziehungen zu Fernando Pessoa, nach dem sie zu suchen beginnt, weil einige der erkannten Männer zu dessen Freundes- und Bekanntenkreis gehören. Schliesslich entdeckt sie ihn, zusammen mit seiner Tante, in der Menge. Eine Hypothese, die Areal in ihren einleitenden Worten nachschob: es könnte sich beim Material, auf dem ihr Film beruht, auch um die Outtakes handeln, das weggeschnittene Material, das zu einem wenigstens bisher nicht wieder aufgespürten Film gehörten könnte.

Ein paar Tage später guckte ich aus der Dok-Schiene noch ein Double-Feature: Der 22minütige Mayday (USA, 1970, May First Media [Josh Morton/Nick Doob]) wurde als Vorfilm vor dem etwas über eine Stunde dauernden The Bus (Haskell Wexler, USA, 1965) gezeigt. "Mayday" dokumentiert die grossen Proteste im Frühling 1970 in New Haven, CT, gegen Mitglieder der Black Panther im Zusammenhang mit der Entführung und Ermordung des mutmasslichen FBI-Informanten Alex Rackley, während "The Bus" die Reise einer Gruppe aus Kalifornien zum March on Washington for Jobs and Freedom im Sommer 1963 diskutiert – und dabei ein paar Dutzend der über 200'000 Teilnehmer*innen ein Gesicht gibt, ihre Geschichten erzählt. Dabei werden Bruchlinien innerhalb der Gruppe aufgezeigt, ebenso wie der Stand der Diskussion von damals. Das hat auch etwas leicht Tragisches, denn es ist so ziemlich derselbe, wie er um die BLM-Proteste der letzten Jahre wieder aufgewärmt wurde. Als hätte sich in all den Jahren in allzu vielen Köpfen gar nichts getan (von Punkten wie dem, dass man aufpassen müsse, dass der Effekt nicht nach hinten los ginge, weil durch das bestimmte Auftreten zu viele Menschen verschreckt würden bis zum elenden "aber all lives matter"-Geraune).

In diesem Programmsegment habe ich dieses Jahr viel zu viel verpasst, u.a. frühe Dokumentarfilme von Stanley Kubrick, eine Hommage an Luc de Heusch, Filme von Lionel Rogosin (zum 100.) – aber nicht die Hommage an Nicolás Guillén Landrián, die aus ein paar von dessen kurzen Dokumentarfilmen sowie dem Dokumentarfilm "Landrián" (Ernesto Daranas Serrano, Cuba/Spanien, 2023) bestand: diese werde ich im August in Zürich nachholen, wo sogar ein paar Kurzfilme von Landrián auf dem Programm stehen. Den neuen Dokumentarfilm "Jacques Demy, le rose et le noir" (Florence Platarets und Frédéric Bonnaud, Frankreich, 2024) konnte ich wegen eines Fehlers im Programm nicht gucken – dafür guckte ich "Tasio" und sah damit die "Cinemalibero"-Schiene komplett. Die Kurzfilme von Sarah Maldoror, ebenfalls im Cinemalibero-Segment, hätten auch hier in die "Documenti"-Schiene gepasst.

In einigen der erwähnten Programmschienen, besonderes der grössten, "Recovered and Restored", gibt es jeweils noch ein paar Schwerpunkte. Dieses Jahr gab es z.B. einen mit der Überschrift The Past Is a Ghost Town, von der ich den zweiten Teil gesehen habe, der wiederum mit Place überschrieben war. Darin gab es drei im weitesten Sinn "Reisefilme", begleitet von Daniele Furlati am Klavier. Der Hauptfilm war Viaggio Napoli–Mogadiscio: km 8000 circa (Italien, ca. 1928), nicht vollständig überliefert und unklaren Ursprungs, aber ziemlich faszinierend. Es geht auf dem Schiff von Italien in die Kolonien, die Fahrt für durch den Suez-Kanal nach Somalia, wo die ganzen Reichtümer der Kolonie aufgezählt und ins Bild gesetzt werden – natürlich vollkommen unkritisch, alles geht geordnete Wege, wirkt effizient, aufgeräumt, Plantagen, Manufakturen usw. – und natürlich kommt das nicht ohne rassistische Stereotype aus. Ähnlich die  zehnminütige Dokumentation Antigua (UK, 1918), in der eine kleine Kolonie einer anderen europäischen Macht ins Bild gesetzt wird, in diesem Fall inklusive historischer Sehenswürdigkeit, Nelson's Dockyard, das die britische Navy Ende des 19. Jahrhunderts verlassen hat. Ganz anders dann der Tonfall in Venezuela (UK, 1918): ein unabhängiges Land (seit 1811) kann natürlich nicht wohlgeordnet sein, Caracass sei eine lethargische Stadt mit einer ungebildeten Bevölkerung, so der erste Zwischentitel, kaum hat der Film begonnen. Faszinierend, solche Einblicke zu kriegen – und die waren natürlich eingebettet durch die Einleitung von Andrea Meneghelli, der die zwei "Past Is a Ghost Town"-Programme kuratiert hat (im ersten, "Time" überschrieben, ging es u.a. ins antike Ostia, mit Torquato Tasso ins "heilige Land", ins antike Griechenland und nach Sibirien – wäre bestimmt auch interessant gewesen).


Co-Leiterin des Festivals  Mariann Lewinsky & Fotos aus dem Nachlass von Albert Samama Chikli

2) Raritäten aus dem Osten und aus dem Süden

Von hier ist es nicht weit zu den Raritäten, oder? Eine der grössten Entdeckungen hätte ich fast übersprungen: Chemi Bebia (My Grandmother) (Kote Mikaberidze, USSR, 1929), eine einstündige, gnadenlose Bürokratiesatire, explosiv begleitet vom finnischen Trio Cleaning Women (drei Jungs in Röcken, die grossteils selbstgebaute Instrumente spielen). Ein völlig irrer Film mit tollem Soundtrack. Der georgische Regisseur Kote Mikaberidze konnte danach keinen weiteren Film mehr drehen – eigentlich Beweis genug für die Schlechtheit der Welt. Antti Alanen im Programmheft:

No holds are barred in Kote Mikaberidze’s savage attack on bureaucracy. There are affinities with the Dada, the wildest masters of early film farce (Cretinetti), early Eisenstein (Strike), and the FEKS school of Soviet cinema. Mikaberidze’s film is a firework display of visual technique. There are urban montages, distorted visions, object-animation sequences, slow-motion passages, and extreme close-ups. The entire film is geared to extreme states of consciousness. One of the wittiest and most original inventions is towards the end when the characters in a chase sequence transform into their own shadows.

A dystopian vision of an open-space office is a recurrent feature in classic films exposing the alienation of the modern workspace. We remember The Crowd by King Vidor, The Apartment by Billy Wilder and The Trial by Orson Welles. Mikaberidze beats them all with his vision of the bureaucratic workspace. This incredible work is a must-see for all people interested in films that transcend the limits of conventional narrative.

Dasselbe Schicksal – Karrierenende nach dem ersten Langfilm – erlitt auch Ester Krumbachová, die tschechische Drehbuchautorin, Kostüm- und Bühnenbildnerin und Regisseurin. Auch ihr Vražda ing. Čerta (Murdering the Devil) (Ester Krumbachová, CSSR, 1970) gehört zu meinen grossen Entdeckungen des Festivals. Ein surrealistischer Film im bürgerlichen Gewand, ein Geschlechterstreit in Form eines wüsten Fressens. Selbst Stuhlbeine sind vor dem diabolischen Appetit des Ingenieurs Cert (= Teufel) nicht sicher. Martin Šrajer im Programmheft: "With previous projects, Krumbachová could only use a fraction of her skills. On Vražda ing. Čerta she embraced everything she was fascinated by and excelled at. She herself gave form to a detailed mise-en-scène with a touch of Art Nouveau and occultism, sewed the clothes, made the jewellery, designed the furniture, and even prepared the food that conveys more meaning than the dialogue. The film passed censorship and was allowed to premiere in September 1970. However, artistic opportunities of Krumbachová, who collaborated on many politically problematic films of the Czechoslovak New Wave, were gradually cut down. She never made another film. This visually opulent parable about male and female roles not only launched but also ended the directorial filmography of this Renaissance woman."

In der "Recovered and Restored"-Schiene ging auch die Ausgrabung aus dem Nachlass des tunesischen Filmemachers, das Progetto Samama Chikli weiter, kuratiert von der Festival Co-Direktorin aus der Schweiz, Mariann Lewinsky, die letztes Jahr schon zwei Vorstellungen mit Filmen von Albert Samama Chikli präsentierte, die mich so fasziniert hatten, dass ich auch dieses Jahr wieder hin musste. Es gab zuerst ein paar Kurzfilme, ergänzend zu den letztes Jahr gezeigten: Pêche de thon de Sidi Daoud (1905, 5'), Pêche au thon Sidi Daoud (1906, 2'), Industrie agricole arabe (1911, 5'), Industrie des éponges (1912, 6'), dann eine kurze Zusammenstellung von Albert Samama Chikli fragments et inédits (1905–1920, 5') und als Highlight am Schluss die Rekonstruktion des Spielfilms Aïn-el-Ghezal. La Fille de Carthage (1923–1924), für den Chiklis Teenager-Tochter Haydée Chikli das Skript geschrieben und dann auch gleich die Hauptrolle übernommen hat. Viel neues Material wurde dem Nachlass zwar nicht entlockt, aber anhand der Textmaterialien zum Film konnten die vermutlich von René Charles zerschnipselten und völlig neu zusammengesetzten Fragmente in eine neue Reihenfolge gebracht werden, die dem Original vermutlich einigermassen entsprechen sollte und die Handlung – ergänzt durch Stills und nachträglich ergänzte Texttafeln – nun nachvollziehbar macht, im Gegensatz zur verstümmelten bisher bekannten Fassung. Letztes Jahr hatte man diesen Film noch nicht gezeigt, weil die bisher bekannte Fassung eben völlig unsinnig war. Stephen Horne war schon damals dabei, wie üblich an Klavier, Querflöte und Akkordeon, dieses Jahr zusammen mit Frank Bockius am Schlagzeug – grossartig begleitet und besonders das 25minütige Spielfilmfragment ein echtes Highlight.


Co-Leiterin des Festivals  Cecilia Cenciarelli & Annouchka De Andrade

3) Cinemalibero

Von den Raritäten ist es nur ein kleiner Schritt zur Cinemalibero-Reihe, die ich dieses Jahr vollständig gesehen habe. Bona (Lino Brocka, Philippinen, 1980) war meine erste grosse Entdeckung des Festivals, ein beeindruckender Film, in der Darstellung nah an der Titelfigur bleibend, die sich obsessiv auf eine missbräuchliche (Nicht-)Beziehung einlässt. Dabei wirkt der Film nie wertend, versucht auch – zumindest mit Worten nicht – zu erklären, zeigt einfach nur, und wirkt dadurch umso heftiger. Der Film wurde von Carlotta Films in 4K restauriert und im Frühling in Cannes erstmals in der Version gezeigt.

Khak-e Sar Bé Mohr (The Sealed Soil) (Marva Nabili, Iran, 1977) war der nächste Film, den ich sah. Die nachträglich gefertigte Tonspur wirkt, als gehöre sie nicht so recht zum Film, was anfänglich recht irritierend war. Dennoch ein wahnsinnig starker Film und eine grosse Entdeckung. Die Eintönigkeit und Monotonie im Alltag einer jungen, unverheirateten Frau, ihre stille Rebellion und ein Moment Befreiung (eine poetische Szene: sie zieht sich im Regen am Fluss aus) bis zum Moment der «Entladung» - und hinter allem stets die dominante, elende Männerwelt, die die Aufmüpfigkeit am Ende mit einem Exorzismus-Ritual bestraft. Im Iran nie gezeigt kursierte der Film nur auf schlechten VHS-Kopien – zum Glück wurde er UCLA Film & Television Archive restauriert.

Dann Festa – Una trilogia di Sarah Maldoror, eine von der Tochter der Regisseurin, Annouchka de Andrade, zusammengestellte und präsentierte Kompilation von drei Filmen: Fogo, l’Île de Feu (Frankreich/Kapverden, 1979), Cap-Vert, un Carnaval dans le Sahel (Frankreich/Kapverden, 1979) und À Bissau, le Carnaval (Guinea-Bissau, 1980). Nachdem sie bereits den Befreiungskampf in Angola und Guinea-Bissau filmisch dokumentiert hatte, wurde Sarah Maldoror eingeladen, die Anfänge der Unabhängigkeit zu dokumentieren. Die Filme sind vor dem Coup im November 1980 entstanden, mit dem das Ende der PAIGC besiegelt wurde, der von Amilcar Cabral gegründeten Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde. Bei den Maifeiern, die in "Fogo" zu sehen sind, wird Cabral gehuldigt, der Off-Kommentar erörtert die historische Bedeutung der Inseln. In den beiden folgenden Filmen werden die Vorarbeiten und die Karnevalsprozessionen dokumentiert, Kultur, Politik und Tradition ineinderverwoben. Ein Fluss von Bildern, dem ich auch über Stunden hätte zuschauen können. "My sister Henda and I were committed to restoring these three films to be able to present them together in a single programme as an expression of the emancipating force of culture, and as an illustration of the poetic cinema of our mother, Sarah Maldoror." - So Annouchka de Andrade im Programmheft. Die Filme wurden 2024 vom CNC in 4K restauriert, ab den originalen 16mm- und Magnetbändern)

Entezar (Waiting) (Amir Naderi, Iran, 1974) ist ein Filmpoem, eine "semi-autobiographical, dialogue-free meditation on puberty and desire", eine Dreiviertelstunde kurz, dabei ziemlich repetitiv – und auch nicht ganz ohne Dialog: Ein Junge wird vom Alten Paar, bei dem er lebt, beauftragt, Eis zu holen, verliebt sich in das Mädchen, das ihm dieses reicht – und von dem er nur die Hände zu sehen kriegt. Den Schnitt überliess Naderi wie bei anderen Filmen auch hier keinem Cutter sondern einem Regie-Kollegen, in diesem Fall dem Dokumentarfilmer Kamran Shirdel. Gedreht wurde der Film für Kanoon, das 1965 gegründete "Center for the Intellectual Development of Child and Adolescent" in Teheran.

Nach dem kurzen Film aus dem Iran war genügend Platz für den zweieinhalbstündigen Camp de Thiaroye (Ousmane Sembène/Thierno Faty Sow, Senegal/Algerien/Tunesien, 1988), die einzige Sembène-Leerstelle, die ich nach der Retrospektive im Zürcher Filmpodium noch hatte. Ein wichtiger (fiktionalisierter) Film über das Massaker von Thiaroye, bei dem eine Gruppe von "tirailleurs" niedergeschossen wird. Die "tirailleurs", meist zwangsrekrutiert, hatten für die Kolonialmacht im Zweiten Weltkrieg gekämpft, wurden nach ihrer Rückkehr interniert und nicht korrekt behandelt und entlöhnt, was zu einer Meuterei und deren brutaler Unterdrückung führt. Bedrückend, und dabei bis zum Schluss spannend – obwohl das Ende bekannt ist. In Frankreich wollte man den Film zu verhindern suchen, ein rassistischer Schweizer Verleih sicherte sich dann die Rechte für den ganzen Westen, um den Film für 10 Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. (Auch hier eine 4K-Restaurierung durch das World Cinema Project der Film Foundation und die Cineteca di Bologna, 2024.)

Eine ganz grosse Überraschung und eine meiner grössten Entdeckungen des Festivals war dann Māyā Miriga (Nirad Mohapatra, Indien, 1984). Der Odia-Film (heisst: im Bundesstaat Odisha in Oriya gedreht) zeigt den Alltag einer sich auflösenden wohlhabenden Familie in Indien. Drei – bald vier – Generationen leben unter einem Dach, vier Söhne und eine Tochter suchen ihren Weg, heiraten, ziehen weg, die Schwiegertöchter werden als Küchenhilfe ausgenutzt, die Söhne suchen sich vom Patriarchen zu befreien, während dessen Mutter stirbt. Ein grosses Drama in kleinen Gesten, das auch in seiner Entstehung (Mohapatras einziger langer Spielfilm, er war sonst v.a. auf Dokumentarfilme spezialisiert, drehte laut Wikipedia aber auch Soap Operas) einige Hindernisse überwinden musste: einen Unfall einer Hauptdarstellerin führte zu einem monatelangen Drehstopp, der Check der Regierung zur Unterstützung des mit kleinstem Budget in Puri gedrehten Film wurde von einer Kuh gefressen … Damals feierte der mit Laiendarsteller*innen gedrehte Film Erfolge und lief in Europa und den USA bei Festivals, doch geriet er bald in Vergessenheit. Drei Jahre dauerte die Restaurierung, nachdem das Negativ in schlechtem Zustand in einer verlassenen Lagerhalle gefunden wurde. Unbedingt erwähnenswert ist auch der grossartige, eindringliche Soundtrack von Bhaskar Chandavarkar.

Nujum An-Nahar (Stars in Broad Daylight) (Ossama Mohammed, Syrien, 1988) präsentiert ein recht ähnliches Thema, aber aus einem ganz anderen Kulturkreis: bei einer Doppelhochzeit haut die eine Braut kurzentschlossen ab, worauf die andere sich ebenfalls verweigert… das Leben verlegt sich vom Dorf in die Stadt, geht irgendwie weiter. Den Reigen an Personen und Geschichten fand ich durchaus interessant, habe aber viele Anspielungen und Doppelbödigkeiten, den Sarkasmus des Filmes, bestimmt nicht verstanden. Mohammeds Film wurde 1988 einmal in Damaskus vor einem geladenen Publikum aus Künstlern und Intellektuellen gezeigt, und dann umgehend verboten. Er durfte allerdings dann bei den Festivals in Cannes, Valladolid und Rabat vorgeführt werden, worauf er in Europa zu sehen war. Doch nach den Aufständen in Syrien 2011 ging Mohammed ins Exil nach Frankreich. Die Suche nach "Nujum An-Nahar" erwies sich einmal mehr als schwierig, aufgetrieben werden konnte er – ohne eingebrannte Untertitel oder sonstige Schäden – schliesslich bei einem ungenannt bleibenden deutschen Fernsehen, das in den Neunzigern eine 35mm-Kopie erstanden hatte. Auf dieser Grundlage wurde die Restaurierung durchgeführt, unter Einbezug von Mohamed, der auch anwesend war, um ein paar Worte über seinen Film zu sagen.

Der nächste Film der Reihe war nach dem von Mohapatra die andere ganz grosse Festival-Entdeckung: La Nouba des Femmes du Mont Chenoua (Assia Djebar, Algerien, 1978). Djebars Film wurde als "work in progress" gezeigt, wie Cenciarelli sagte: eine 4K-Fassung auf Grundlage der vorliegenden Quellen ist eigentlich ein Witz, der Film it über weite Strecken monochrom in Tönen zwischen Fuchsia und Magenta, das 16mm-Bild alles andere als brillant. Seit 10 Jahren schon war eine Restaurierung geplant, die in der Cinemathek in Algiers vorhandene 16mm-Kopie konnte nur mit viel Mühen ausser Land gebracht werden. Eine zweite Kopie wurde im Mai aufgetrieben, einen Monat lang vom Zoll festgehalten und bunter war diese auch nicht … ich hab das nicht im Detail verstanden, aber es ist sehr zu hoffen, dass noch besseres Material aufgespürt werden kann und die Restaurierung (wieder World Cinema Project der Film Foundation und Cineteca di Bologna, in Zusammenarbeit mit dem Algerischen Rundfunk und der Cinémathèque Algérienne) weiter gehen kann. Dennoch ein grandioser Film, wie der von Marva Nabili eindeutig dem feministischen Kino zuzuordnen. Durch die fünf Sätze einer "Nouba" (eine Art Vorläufer der Symphonie aus dem arabisch-andalusischen Raum, bekannt seit dem 11. Jahrhundert) folgen wir der Protagonistin, einer aus dem Krieg zurückkehrenden Kämpferin, die es wieder hinauszieht, weg von Kind und Mann. Sie fährt herum und spricht mit Frauen über die Erfahrungen aus dem Krieg. Einmal ertönt der folgende Satz, der sich eingebrannt hat: "I'm not looking for anything. I'm listening to broken memory."

Um den Krieg geht es auch im Film, den ich aus der Cinemalibero-Reihe als letzten sah, Al-Leil (The Night) (Mohammad Malas, Syrien, 1992), für einmal in einer regulären 35mm-Kopie (im Verleih von Trigon Film). Ein mehrschichtiger, sehr poetischer Film, dessen Hintergrund die Tragödie von Palästina bildet. Ein sehr persönlicher Film über die Suche nach einer anderen Zeit und über den Verlust. " In Malas’ al-Leil, the main character is a man trying to recover the lost memory/biography of his father, a peasant who had voluntarily joined the ranks of rebels – as did hundreds of peasants in the region – in the 1936 Great Revolt in Palestine. As the young man endures humiliation in his own life, his troubles echo the hardships that his father endured after he settled in Quneitra. The film does not aim at restoring heroism to forgotten heroes, far from it: with humility and eloquence, it gives the tragedy of Palestine and its struggle for liberation the face of a peasant, the figure of a man, his wife and his son. The loss of his memory/biography is an erasure from the script of official history – self-congratulating and triumphalist." (Rasha Salti: Insights into Syrian Cinema, Rattapallax Press/Arte East, New York 2006)

Zu guter letzt ergab sich wegen des erwähnten Fehlers im Programm noch die Gelegenheit, statt des falsch programmierten neuen Dok-Films über Jacques Demy (siehe oben; der Film dauerte erheblich länger als ursprünglich angekündigt, ich hätte auf meinen im darauffolgenden Slot geplanten Film verzichten müssen) noch die Chance, den fehlenden letzten Film der "Cinemalibero"-Schiene zu sehen, Tasio (Spanien, 1984) von Montxo Armendáriz, der seinen von der baskischen Filmothek in 4k restaurierten Film auch selbst vorstellte. Ein stiller Film über einen Mann, der sich weigert, für jemanden zu arbeiten und stattdessen von dem lebt, was der Berg hinter seinem Dorf hergibt: er stellt Fallen für Hasen und Füchse, für Fische, für Wildschweine, jagt auch einmal, stellt Holzkohle her – und verkauft das eine oder andere, was er und seine Familie nicht selbst zum Leben benötigen. Der Spielfilm beruht auf der Begegnung mit einem echten Anastasio, den Amendáriz bei den Dreharbeiten seines 1981er-Dokumentarfilmes " Carboneros de Navarra" über die letzten Köhler in der Provinz Navarra kennenlernte. Dieser Mann beeindruckte den Regisseur so sehr, dass er mit ihm durch die Wälder zog, seine Lebensweise kennenlernte und daraus dann den beeindruckenden Spielfilm drehte, der mit Hilfe der Bewohner*innen einiger Dörfer der Region entstand, die auch als Statist*innen mitwirken, Kostüme und Gegenstände für den Dreh zur Verfügung stellten.


Co-Leiter des Festivals  Ehsan Khoshbakht und die beste Übersetzerin aus dem Festival-Team, deren Name ich leider nicht kenne

4) Journeys Into Night: The World of Anatole Litvak

1902 in Kiev als Sohn russischer Juden geboren, führt Litvaks Biographie ihn über Moskau nach Berlin, Paris, London und Hollywood. Er wurde Zeuge von Revolutionen und Kriegen und wie Ehsan Khoshbakht es formuliert: " his films dealt with flawed, unstable men and women whose identity crises reflected the upheaval of the world between the Russian Revolution and the aftermath of the Second World War" (Programmheft). Bei fast allen seiner Filme war er am Drehbuch beteiligt und produzierte oder co-produzierte sie auch. Raum war ihm als die Geschichten seiner Filme, die Drehtage begannen damit, dass er auf dem Kamerawagen sass und die jeweils anstehenden Szenen anhand der Kamerabewegungen plante. "Camera was his god", soll Bette Davis mal geklagt haben.

Der früheste Film der Reihe war Nie Wieder Liebe (Deutschland, 1931). Ein Playboy (Harry Liedtke), der von Frauen genug hat – und von ihnen nie genug bekommen kann – beschliesst, für fünf Jahre allen Abenteuern zu entsagen und zu dem Zweck auf seiner Jacht herumzusegeln, ohne an Land zu gehen. Der Film beginnt im UFA-New York und endet in Südfrankreich, wo in Nizza gefilmt wurde. Das grosse Highlight ist die Szene, in der die ganze Besatzung des Schiffs den Titelsong zum besten gibt, dazwischen geschnitten Aufnahmen aus dem Maschinenraum, die Matrosen in ihrer verzweifelten Melancholie der erzwungenen Entsagung, dann ein Stepptanz der aus dem Meer gefischten Lilian Harvey, und schon zerbricht die männliche Kameradschaft. Nicht unproblematisch, aber sehr vergnüglich – und wirklich toll gefilmt (Kamera: Franz Planer). Von diesem Film wurde eine Restaurierung gezeigt (Murnau-Stiftung, 2023), die allermeisten Filme der Reihe wurden in 35mm-Kopien gezeigt.

Mein Einstieg in die gemäss Khoshbakht vermutlich erste Litvak-Retrospektive überhaupt war The Amazing Dr. Clitterhouse (USA, 1938) mit Edward G. Robinson in der Titelrolle. Düster und mit tollem Pacing erzählt der Film, wie der Arzt mit den von Claire Trevor und Humphrey Bogart gespielten Figuren eine kriminelle Gang bildet, um seine Forschungen zu kriminellen Verhaltensmustern zu vertiefen. Bald realisiert er, dass ihm nur noch ein Kapitel fehlt: Mord. Litvak verweigert sich Close-Ups selbst da, wo Schlüsselsätze fallen, er erzählt seine Geschichte mittels Kamerafahrten, Bewegung, der Inszenierung von Räumen. Dabei kommen oft ungewohnte Kamerawinkel zum Einsatz, es entsteht eine Art kubistischer Noir, in der Robinsons übliche Gangster-Figur gekonnt auseinandergenommen und neu zusammengesetzt wird.

Das Thema der exilierten Zaristen im Westen kam erstmals in Tovarich (USA, 1937) auf, einer Screwball-Komödie mit Claudette Colbert und Charles Boyer in den Hauptrollen als mittelloses Aristokraten-Paar in Paris, das den Schatz des Zaren hütet, gejagt wird von Bolschewisten und sich in der Not dazu gezwungen sieht, als Bedienstete einer französischen Aristokratenfamilie anzuheuern. Schnell, charmant und wie immer toll gefilmt, bietet "Tovarich" einige von Litvaks Lieblingsthemen (frei nach Khoshbakht im Programmheft): Rollenspiele; die Überlegenheit der alten Welt gegenüber dem Sozialismus; Personen, die ihre Privilegien verlieren, aber einen Platz in der neuen Welt finden; und die – wenngleich widerwillige – Anerkennung der neuen Verhältnisse.

Schon zwei Jahre davor entstand in Frankreich ein Kriegsfilm, der auch ein Dreiecks-Liebesdrama, ein Film über eine grosse Männerfreundschaft und noch einiges mehr ist: L’Équipage (Frankreich, 1935). Toll die Materialität der Bilder in den Kriegsszenen mit Flugaufnahmen, Gräben, Explosionen in Dunst, Staub und Nebel, ihre Körnigkeit. Den schon 1932 in Frankreich gedrehten "Coeur de lilas" verpasste ich leider wegen einer Terminkollision ebenso wie Litvaks US-Remake von Marcel Carnés "Le jour se lève", "The Long Night" (1947).

Der zweite Kriegsfilm der Reihe, Decision Before Dawn (USA, 1951), war sicherlich ein Höhepunkt. Die Amerikaner rekrutieren unter Kriegsgefangenen Freiwillige, die hinter den Frontlinien ihre eigenen Truppen ausspionieren sollen. Nach einer halben Stunde wechselt der Film den Fokus von den Amerikanern zur Figur von Oskar Werner, der auf seiner Odyssee auch auf Hildegard Knef trifft (beide in ihren ersten US-Rollen). Gefilmt wurde ausschliesslich im zerstörten Deutschland, der zerrissene Werner irrt durch die riesigen Ruinenlandschaften, kämpft mit seiner Loyalität zur Heimat, die den Verrat bedeutet, wird als Figur zur ebenso versehrten Gestalt, wie es die Kulissen um ihn herum sind. Düster, scharfzüngig, einmal mehr mit harten, körnigen Bildern – die vom gleichen Franz Planer gefilmt wurden, der schon "Nie wieder Liebe" mit Litvak gedreht hatte. Zwanzig Jahre und eine zerstörte Welt liegen dazwischen.

Nach "L'Équipage" wurde Litvak die antisemitische und xenophobe Stimmung in Europa zuviel und er brach in die USA auf, wo er mit "The Woman I Love" erstmal ein Remake von "L'Équipage" gedreht hat. Bevor er für mehrere Jahre pausierte, um Filme für die Army zu drehen (u.a. gemeinsam mit Frank Capra die "Why We Fight"-Propaganda-Reihe, darunter "The Battle of Russia", den er persönlich vor dem russischen Generalstab vorführte und daraufhin von Stalin ausgezeichnet wurde), entstanden in den USA u.a. noch City for Conquest (USA, 1940) und Blues in the Night (Anatole Litvak, USA, 1941). Der erste ist zweifellos einer von Litvaks grössten Triumphen, ein Grossstadtdrama mit James Cagney, hier atypisch besetzt, ihm war Litvaks Sophistication wohl nicht geheuer – aber umso berührender. Cagney verliert seine Frau (Ann Sheridan) und sein Augenlicht, während sein Bruder, der mittellose aber geniale Musiker (Arthur Kennedy) aufsteigt. In seinem bescheidenen Kiosk hört Cagney, der einstige Held des Madison Square Garden, wie sein Bruder in der Carnegie Hall ein umjubeltes Konzert gibt. Cagney wird hier ähnlich dekonstruiert wie Robinson in "Dr. Clitterhouse". Wenn der Film etwas schneller wirkt, anders geschnitten als bei Litvak üblich, dann hängt das wohl mit einer gewissen Anpassung an den Haus-Stil von Warner Bros. zusammen. "Blues in the Night" ist ein Ensemblefilm über eine Gruppe von Musikern mit neuen Ideen (die sich ein wenig nach Alfred Lion von Blue Note Records anhören: sie suchen nach dem "true blues" – klar, dass sie alle weiss sind, auch wenn sie den Jazz neu erfinden … nun, so war das leider im Filmbusiness damals – und verbünden sich mit einem Gangster, der ihnen in einem Roadhouse die Gelegenheit gibt, aufzutreten und ihre Musik zu entwickeln. Dort treibt eine femme fatale (Betty Field) ihr Unwesen und die Kameradschaft der Musiker – zu der auch eine Sängerin (Priscilla Lane) gehört – beginnt zu zerfallen. Die Mischung aus Musik- und Gangsterfilm gelingt, die Mischung aus poetischem Realismus und hartem Expressionismus ebenso. Mit ein paar Tagen Abstand ist der Film wohl nochmal ein wenig gewachsen. Trivia: Elia Kazan spielt in diesen beiden Filmen grössere Nebenrollen und hatte bald schon Lust, selbst Filme zu drehen. Sein "On the Waterfront" kann durchaus als eine Art Fortschreibung von "City for Conquest" gelesen werden – was natürlich auch für Scorseses "Raging Bull" gilt.

Die Kriegspause dauerte bis 1947, der verpasste "The Long Night" (ein Kassenflop) war der erste Film von danach, zwei aus dem Jahr 1948 sah ich dann wieder, beide toll. Sorry, Wrong Number (USA, 1948) ist ein Noir mit Barbara Stanwyck in einer ihrer besten Rollen. Krank ans Bett gefesselt ist das Telefon ihr einziger Zugang zur Aussenwelt. Zufällig überhört sie einen Mordplan und merkt, dass sie selbst das Opfer ist. In Rückblenden wird die Geschichte erzählt (inklusive Rückblende in der Rückblende), die ödipale Beziehung zum übermächtigen Vater, die totale Kontrolle ihres Ehemannes (Burt Lancaster), der zu kruden Mitteln greift, um dieser Kontrolle zu entkommen, was schliesslich zum Mord an seiner Frau führt … die typischen Litvak'schen Kamerafahrten führen nicht mehr durch singende und tanzende Menschen in üppigen Räumen sondern durch dunkle leere Treppenhäuser und Gänge. Ein enorm präziser Film, der auch selbstreferentiell wird, wenn wir uns der Lust des Schauens ergeben, Dinge sehen, die die Protagonistin (noch) nicht sehen kann. Das Thema der Frau am Rand des Nervenzusammenbruchs ist eines, das sich bei Litvak durchs Werk zieht. Auch in The Snake Pit (USA, 1948) bildet es das zentrale Motiv. Der Film thematisiert die fürchterlichen Zustände der Psychiatrie jener Zeit – Anklänge an Gefängnisse und Lager sind kein Zufall (im UK war die Empörung so gross, dass der Film um 12 Minuten gekürzt wurde). Litvak hatte auch während des Krieges schon Filme über Soldaten, die unter PTSD litten, gedreht und hatte zudem den Plan, einen Film über Freud zu drehen. Die Protagonistin (Olivia de Havilland) wird wandelt durch eine Kulisse aus ins Schloss fallenden, versperrten Türen, klackernder Gitter, tickenden Uhren und hohläugiger, bösartigen Pflegerinnen, gleichgültiger Ärzte und dutzenden ins Leere starrenden Statistinnen. Ein engagierter junger Arzt nimmt sich ihrer an, greift zu Mitteln der Psychoanalyse, um sie zu heilen (Freud blickt von der Wand seines Büros), was mit mehreren Rückschlägen allmählich gelingt. Grosses Drama, grossartiger Film.

The Deep Blue Sea (UK, 1955) wurde in England gedreht – und ist um vieles berührender als das Remake von Terence Davies. Vivien Leigh ist hier die Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die die Rolle nach Marlene Dietrichs Absage erhielt. Im Cinemascope-Format (und ein wenig ausgebleichter 35mm-Kopie) inszeniert Litvak das recht statische Kammerdrama oft mit Vertikalen Bildteilern wie Türen und Türrahmen. Zu den die Handlung unterbrechenden Rückblenden mit Aussenaufnahmen gehören u.a. Skifahrszenen in Klosters, bei denen pausenlos gejodelt wird – ein absurd-köstliches Vergnügen. Das Drama einer Frau, die um etwas kämpft, das sie nicht gewinnen kann – weil es etwas anderes ist, als das, wofür sie es hält – was ihr und dem Zuschauer Szene für Szene klarer wird. Ein Film über verblassende Liebe, über versiegende Hoffnung. Gross.

Der letzte Film aus der Reihe ist dann der zweite mit den Zaristen, wieder eine US-Produktion, die aber vor allem im Studio in England sowie on location in Paris, Nizza und Kopenhagen gedreht wurde: Anastasia (USA, 1956). Auch hier Cinemascope und Technicolor (auch etwas weniger Blautöne übrig als gewünscht). Ingrid Bergmann verkörpert Anastasia, spielt die vermeintliche letzte Überlebende der Zarenfamilie, gecoacht von Yul Brynner als windigem General Bounine, der auf das Vermögen des Zaren bei der Bank of England schielt und bald nicht mehr weiss, ob er es nicht mit der tatsächlichen Grossherzogin zu tun hat. Einmal mehr inszeniert Litvak meisterlich Räume, ist an ihnen mehr interessiert denn an seinen Protagonistinnen und ihrer Geschichte. Die aufgeführte Charade wird zunehmend von den Betroffenen selbst für wahr genommen – doch am Schluss, als die Kaiserwitwe das Ende verkündet, haben Anastasia und Bounine das Bild längst verlassen. Wie in einer der prägendsten Szenen davor schon – einem Dialog, bei dem wir nur die leere Halle mit den geöffneten Türen zu ihren Räume zu beiden Seiten sehen – bleiben wir mit dem leeren Raum allein, und mit unserer eigenen Leere.

 


5) Undercurrents of Modernity: The Cinema of Kozaburo Yoshimura

Die Yoshimura-Reihe wurde wie letztes Jahr die Teinosuke Kinugasa gewidmete von Alexander Jacoby und Johan Nordström kuratiert. Bis auf einen der wohl besten Filme, "Chijo" (Japan, 1957), habe ich sie vollständig gesehen und bin sehr angetan. Der Fokus lag auf Filmen der Jahre 1951 bis 1960, in denen Yoshimura eine Reihe unterschiedlicher, unabhängiger und starker Frauen im Nachkriegs-Kyoto portraitiert hat – die Stadt war im Krieg mehr oder weniger unversehrt geblieben und ist in den Filmen noch grossteils im Zustand vor der Modernisierung der Nachkriegszeit zu sehen. Sozialer und politischer Wandel in einer sich rasant modernisierenden Gesellschaft bilden den Hintergrund der meisten Geschichten. Dabei versucht Yoshimura sich weniger an einer Sozialkritik als dass er das Augenmerk auf die menschliche Dimension legt, auf das Denken und Handeln seiner Protagonistinnen. Den vielleicht schönsten der Filme, "Yoru no kawa" ("Undercurrent" oder "Night River"), gab es in einer neuen 4K-Restaurierung, alle anderen als 35mm-Kopien.

Mein Einstieg war einer der schönsten dieser Filme: Nishijin no Shimai (The Sisters of Nishijin) (Japan, 1952), in dem die Geschichte dreier Schwestern und ihrer sterbenden Mutter erzählt wird, wie sie ums Überleben kämpfen, nachdem der verschuldete Vater sich das Leben genommen hat. Die Familie ist im traditionellen Textilgeschäft tätig und besitzt eine Weberei, die sie mit aller Kraft – letzten Endes vergeblich – zu erhalten versucht. Ein exzellentes Ensemble, perfektes Pacing und die wunderbaren Bilder machen diesen Film zu einem beeindruckenden Meistwerk. An der Kamera Kazuo Miyagawa, der zwei Jahre zuvor "Rashomon" und ein Jahr später "Ugetsu monogatari" gefilmt hat.

Der früheste Film der Reihe war Itsuwareru Seisou (Clothes of Deception) (Japan, 1951), ein Drama um zwei Schwestern, von denen die eine als Geisha, die andere als unbedeutende Verwaltungsangestellte tätig ist, erstere gespielt von Machiko Kyo, die im Jahr davor schon in "Rashomon" glänzte und auch hier hervorragend ist. Der Film wurde gelobt dafür, wie er die Stimmung in Gion, einem Teil Kyotos, eingefangen habe, und auch schon mal als Nachkriegs-Update von Mizoguchis " Gion no kyodai" (Sisters of the Gion, 1936) betrachtet. Doch Yoshimura hat seine eigene Filmsprache entwickelt, in der zarte Momente mit schnellem Schnitt und immer wieder überraschenden Kamera-Winkeln wechseln.

Der erste Farbfilm der Reihe war Yoru no kawa (Undercurrent) (Japan, 1956), das erwähnte Highlight, das in frischer 4K-Restaurierung gezeigt wurde. Hier ist die Kameraarbeit von Kazuo Miyagawa wahrlich grossartig. Sumie Tanaka schrieb auf das Skript und bringt als Frau vermutlich noch mehr Verständnis für die Rolle der neuen Frau im Nachkriegs-Kyoto auf, wie Fujiko Yamamoto sie vibrierend intensiv verkörpert. Als Designerin von Kimonos bleibt sie eigenständig, wehrt Avancen von unterschiedlicher Seite ab, beginnt eine Affäre mit einem verheiraten Wissenschaftler – und lehnt am Ende, nach dem Tod seiner Frau, dessen Heiratsantrag ab. Wichtiger als der Plot ist die Bildsprache, der Einsatz von Farbe (dabei war Yoshimura farbenblind lese ich gerade!), der Kamera, des Tons, der ganzen Mise-en-scène. Fast jedes Bild aus diesem Film würde ich an die Wand hängen.

Am Skript von Osaka Monogatari (An Osaka Story) (Japan, 1957) hat Kenji Mizoguchi anscheinend noch auf dem Sterbebett gearbeitet. Yoshimura übernahm das Projekt für den Film, der in seinen Händen zu einer härteren, zynischeren Kritik am Kapitalismus wird, wie sie im Nachkriegsjapan zweifellos auf Resonanz stiess, obwohl der Film in der Edo-Zeit (1603–1868) angesiedelt ist. Eine verarmte Familie baut auf der Grundlage von Bestechung, Geiz, verschlagenem Geschäftssinn und grosser Lust am Betrug ein Imperium auf, angesiedelt wie der Titel schon sagt in Osaka, der Handelshauptstadt des Landes. Ganjiro Nakamura, ein ehemaliger Kabuki-Darsteller, der sich geschickt eine zweite Karriere als Filmschauspieler aufbaute, glänzt in der Hauptrolle.

An dieser Stelle habe ich leider wie erwähnt "Chijo" verpasst, es folgte Yoru No Sugao (The Naked Face of Night) (Japan, 1958) über zwei Tänzerinnen, die zunächst in einem Verhältnis von Lehrerin und Schülerin stehen, aus dem ein brutaler Konkurrenzkampf entwächst. Machiko Kyo und Ayako Wakao spielen die Hauptrollen, Wakao verkörpert jetzt die junge, aufmüpfige Figur, die sich mit den Traditionen anlegt. Den Film fand ich eher als Charakterstudie denn vom Milieu her interessant – und das deckt sich mit der Haltung von Kaneto Shindo, der hier wie bei vier weiteren Filmen aus der Festival-Auswahl das Drehbuch schrieb: "What I’m interested in are money, power, bluffing, lewdness, and naked human statues that dance with excitement" (aus dem Programmheft). Der Film bietet auch einen Kriegsfilm-Einstieg in monochromen Bildern, einen starken Soundtrack, stilistische Mittel wie den Einsatz von Split-Screens – aber so ganz überzeugend fand ich ihn nicht.

Wieder besser gefiel mir der letzte Film der Auswahl, Onna no saka (A Woman’s Uphill Slope) (Japan, 1960). Die Heldin des Films, Akie (Mariko Okada), kommt als junge Frau nach Kyoto, wo sie einen Laden erbt, in dem traditionelle Süssigkeiten hergestellt werden. Wie sie das alles umkrempelt, neue Ideen einbringt und dabei trotz Widerstände traditioneller Kräfte Erfolg hat, wird leichtfüssig und zart erzählt. Das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne wird nicht nur im Innenraum sichtbar, wenn die Protagonistin im knallroten Pullover und eng geschnittener Hose durch die traditionellen Werkstatträume federt, sondern auch im Aussenraum, dem von Yoshio Miyajima in erneut perfekter Farbgestaltung eingefangenen Kyoto, in dem inzwischen die Zeichen der Moderne – Betonbauten, Leuchtreklamen – zu sehen sind. Eine Art Fortschreibung von "Yoru no kawa", und für mein Empfinden genau so gut.

 

Blick ins frisch renovierte Cinema Modernissimo, das seit diesem Jahr ebenfalls zu den Festival-Locations gehört.


6) Gustaf Molander – The Actresses’ Director

Ich hatte die Schwerpunkte gesetzt, ohne Litvak und Yoshimura zu kennen – und erst recht nicht die Regisseur*innen und Filme der Cinemalibero-Reihe. Die Molander-Reihe umfasste nur acht Filme, sein Werk wird von Jon Wengström, der die Reihe kuratierte, als umfangreich und vielfältig bezeichnet – und es wird eingestanden, dass es auch mal auf und ab ging. Drei Filme habe ich sehen können, leider nicht "En kvinnas ansikte" (Schweden, 1938) und "Kvinna utan ansikte" (Schweden, 1947), einen der sechs Filme, die Molander mit der jungen Ingrid Bergman machte, deren Karriere er mit seinen Filmen in Schwung brachte.

Gesehen habe ich zwei halbe Stummfilme und ein Teenager-Drama aus den frühen Fünfzigern, alle durchaus sehenswert. En natt (One Night) (Schweden, 1931) ist der eine halbe Stummfilm, ein früher Tonfilm, der aber ohne Dialoge fast so gut verständlich gewesen wäre – und dadurch vermutlich gewonnen hätte, so hölzern wie die Dialoge oft gespielt und gesprochen werden. Eine Aristokratenfamilie nah der finnisch-russischen Grenze wird durch die Revolution im östlichen Nachbarland zerrissen, der eine Sohn lebt mit einer Russin zusammen und kämpft auf der Gegenseite, während der andere das eigene Land verteidigt. Ein Familiendrama, ein Brüderdrama, ein Liebesdrama, rasant geschnitten und mit überraschenden Kameraeinstellungen (vom sowjetischen Kino geprägt) – irgendwie toll und dann auch wieder fürchterlich klischiert, wie am Ende die Ehre über die Liebe obsiegen muss.

Der andere halbe Stummfilm war einst ein ganzer, ist aber zu weiten Teilen verloren: Till Österland (To the Orient) (Schweden, 1926) ist nur zu ca. einem Viertel überliefert, die erhaltenen Szenen stammen allerdings von fünf der insgesamt einst sieben "reels". Die aktuelle Rekonstruktion dauert 42 Minuten, eine Szene wurde im Kurzfilm " Selma Lagerlöf 80 år" (1938) gefunden, die Zwischentitel stammen von den Originalen, es wurden wo vorhanden Stills und weitere erklärende Zwischentitel eingefügt, um die ganze Handlung verständlich zu machen. Neil Brand begleitete den Film am Klavier, der allein deshalb sehenswert ist, weil er teilweise in Jerusalem und Jaffa gefilmt wurde und so ein paar Einblicke in vergangene Zeiten gestattet. Der Plot: Schwedische Aussiedler, die ins heilige Land reisen, sich dort niederlassen und alles von Heimweh bis zu religiöser Ekstase (oder: Verblendung) erleben, bis der Protagonist wieder in die Heimat reist, um Abbitte zu tun – christlich, allzu christlich, aber dennoch faszinierend.

Zwischen den zwei frühen Filmen sah ich auch noch Trots (Defiance) (Schweden, 1952), und den fand ich nun wirklich gut. Ein grüblerischer Student kämpf mit seinen Abschlussprüfungen, treibt sich herum, lernt ein Mädchen kennen (Harriet Andersson in ihrer ersten Hauptrolle, ein Jahr bevor sie in "Sommaren med Monika" von Ingmar Bergman eine ähnliche Figur weiterentwickelte). Der Vater des Studenten ist Lehrer und kämpft mit eigenen Problemen, das Mädchen wird schwanger, treibt ab, alles droht zusammenzubrechen und geht doch weiter. Andersson wirkt frisch, verletzlich und doch unabhängig, eigenständig. Ein dunkler, nachdenklicher Film, der dennoch dank seiner Filmsprache und dem guten Ensemble auch recht leicht wirkt, obwohl er schwere Themen anspricht.


Damien Chazelle bei der Einführung zu seinem Film "Babylon" - neben ihm wieder die Übersetzerin sowie der Leiter der Cineteca und Co-Leiter des Festivals Gian Luca Farinelli

7) Klassiker, Vintage Prints und viel Musik

Aus der Reihe zu Delphine Seyrig sah ich nur einen Film, Golden Eighties (Belgien/Frankreich/Schweiz, 1986) von Chantal Akerman, ein vollkommen durchgestyltes, choreographiertes Musical, das bis auf die Schlussszene in einer kleinen Ecke einer Shopping Mall spielt (Toison d'Or in Brüssel). Die Schlussszene unter freiem Himmel wirkt danach ein wenig wie eine Befreiung, auch wenn sie eher ein Trost ist für das Glück, das nicht festgehalten werden kann. Seyrig tritt in Dauerwelle als Modeboutique-Besitzerin (und wie man erfährt KZ-Überlebende) mit Dauerwelle, langweiligem Ehe- und eher ekligem Sohnemann auf, der wiederum eine Affäre mit der Chefin des gegenüberliegenden Coiffeursalons hat, die aber vom Besitzer ihres Salons ausgehalten wird … der Look des Films mit Choreographie, Kostümen, Farben, dass auch manches an alltäglichem Dialog in Gesang gesetzt wird, erinnert stark an Jacques Demy, der mit "Les Parapluies de Cherbourg" quasi Headliner der diesjährigen Festival-Ausgabe war (dasselbe Motiv findet sich auf dem Poster, dem Programmheft und der Stofftasche, die es zum Festivalpass dazu gibt). Ein Amerikaner taucht in der Shopping Mall auf, will sich im Damensalon rasieren lassen – und erkennt dann in der Besitzerin der Boutique gegenüber seine grosse Liebe, mit der er Jahre zuvor einige Zeit verbracht hatte, bis sie spurlos verschwunden ist. Seyrig lässt sich – man verabredet ein Rendez-vous – umstylen, wird quasi kurz ohne Dauerwelle zu sich selbst, was ihr aber nicht passt und so läuft sich für den Rest des Films wieder im 80er-Look herum. Eine sehr, sehr schöne Überraschung!

Demys Film gab es dann auf der Piazza in neuer Restaurierung zu sehen: Les Parapluies de Cherbourg (Frankreich, 1964). Damien Chazelle sagte ein paar Worte zur Einführung, wobei er die Radikalität von Demys Film betonte und wie diesem die Verbindung aller Künste gelungen sei. Zum Film braucht man echt nichts sagen, oder? Zweifellos einer der besten Filme aller Zeiten und ihn auf der Piazza mit ein paar Tausend anderen zu sehen, auf der riesigen Leinwand mit hervorragender Sound-Anlage, war einfach nur toll.

In Sachen Vorträge zu Restaurierungen usw. habe ich dieses Jahr nur einen besucht, nämlich den zu den Case Study: Restoring Jacques Demy's "Les Parapluies de Cherbourg". Rosalie Varda war da (sie ist das Mädchen in der Schlussszene des Filmes, der Junge ist der Sohn von Michel Legrand), im Gegensatz zum ebenfalls angekündigten Matthieu Demy, gesprochen hat aber grösstenteils Léon Rousseau, der die Tonspur der neuen Version eingerichtet hat. Originalnegative existierten nicht mehr, die Suche nach den besten Tonquellen waren also etwas schwierig (der Film wurde 2011 bereits restauriert und am Bild wurde, wie ich es verstanden habe, für die 2024er-Version nichts verändert). Gefunden wurden eine separate Spur mit allen Geräuschen ausser der Musik und die Musik allein, zunächst in Stereo – seltsam genug, weil der Film nur Mono benötigte). Die Suche ging weiter, man liess sich am Ende alles, was die Universal Music-Archive hergaben, digitalisieren – ohne zu wissen, was dabei genau herauskommen würde. Auf den Bändern wurden nun die vollständigen Sessions von Band und Orchester gefunden, mit allen Takes, grad so, wie sie unter Michel Legrands Leitung eingespielt wurden – die Aufnahme wurde wie damals üblich mit drei Mikrophonen gemacht, es wurde aber auch ein vollständiger 3-Spur-Mix gefunden, bei dem der Gesang dabei war, alle Übergänge synchron zum Bild passten usw. Warum es diese Version gibt, ist nicht klar – Rousseau meinte, vielleicht weil einst eine 70mm-Version des Filmes geplant gewesen sei? Auch über die ebenfalls vorhandenen englischen Tonaufnahmen wisse man bisher nichts, ergänzte Varda. Jedenfalls hat Rousseau eine neue Tonspur eingerichtet mit der 3-Spur-Mix, der separaten Geräuschspur (woher er den Gesang nahm, hab ich nicht mitgekriegt, das war am Ende alles recht technisch), wobei die Mono-Version für die Austarierung (Verhältnis von Stimmen, Musik und Geräuschen) verwendet worden sei. Das Resultat, so Rousseau: er sei "super content … ça va être hyper-bon" – und so war es auch!

Der letzte Festivaltag begann mit einem Wiedersehen von Singin' in the Rain (Stanley Donen/Gene Kelly, USA, 1952) – auch das ein Film, der keiner Worte bedarf. Vor zwei Jahren hatte ich in Bologna schon die neue digitale Restaurierung gesehen, dieses Mal gab es einen Vintage Print von damals, eine 35mm-Kopie in schönstem Technicolor. Dass am anderen Ende desselben Tages, nach einem weiteren Klassiker und "Al-Leil" (siehe oben) Babylon von Damien Chazelle (USA, 2022) stand, passte dann mehr als gut. Auf der riesigen Leinwand auf der Piazza und mit richtig fettem Sound kam der Film vermutlich besser als in fast jedem anderen Rahmen. Margot Robbie ist eine Wucht, ansonsten ist das irrer Ritt, der aber auch ziemlich oberflächlich und unterkühlt bleibt.

Auch einen Vintage-Print – in diesem Fall einen Technicolor Dye Transfer Print, der dazu verwendet wurde, bei neuen Abzügen die Farben korrekt einzustellen – gab es von John Boormans Deliverance (USA, 1972). Im dafür geeigneten Saal mit sehr grosser Leinwand kam der Film ziemlich gut, die desaturierten Bilder, in denen besonders die Grüntöne nachträglich gedämpft wurden, der karge Soundtrack – alles sehr effektiv.

Im selben Saal gab es auch noch ein Wiedersehen mit Tokyo Nagaremono (Tokyo Drifter) (Japan, 1966) von Seijun Suzuki – auch das ein sehr tolles Wiedersehen in hervorragender Qualiät (4K-Restaurierung ab Originalnegativ von 2023). Drei weitere Filme sah ich auf der Piazza im Open Air-Kino wieder, The Searchers (USA, 1956) von John Ford am Eröffnungsabend, leider seitlich neben dem bestuhlten Bereich – alles andere als optimal, auch weil der Ton neben der Leinwand sehr viel schlechter war, aber dennoch ein grosses Vergnügen. An den drei Tagen nach Ende des Festivals bin ich noch zweimal zum Open Air (das andere Mal zu einem klassischen Konzert), es gab noch ein sehr tolles Wiedersehen mit dem Zweitling von François Truffaut, Tirez sur le pianiste (Frankreich, 1960) in neuer 4K-Retaurierung – eine echte Überraschung! Ich hatte den Film sehr lange nicht mehr gesehen und nicht annähernd so toll in Erinnerung. So nah kam Truffaut der nouvelle vague wohl nie. Und die scheue, grüblerische, unsichere Figur von Aznavour, deren Gedanken immer wieder aus dem Off zu hören sind, ist wirklich speziell – Verletzlichkeit ist Menschlichkeit und sie ist Stärke (frei nach einem kleinen Gedicht, das Cecilia Cenciarelli zu Beginn des Festivals verlas). Die Musik von Georges Delerue ist super, etwas Name-Dropping von Aznavour gibt es auch mal noch (Earl Hines, Erroll Garner … ich dachte beim Klavierspiel auf der Tonspur allerdings eher an Bernard Peiffer – wer die Tracks eingespielt hat, fand ich leider nicht heraus). Dann gab es am letzten Abend noch ein Wiedersehen mit Mean Streets (USA, 1973), dem Zweitling von Martin Scorsese (auch da eine 4K-Version, 2023 von Criterion ab dem originalen 35mm-Kameranegativ und den Originalbändern erstellt) – ein starker Abschluss.

Ein paar Klassiker des frühen Tonkinos, die ich noch nicht kannte, gab es im Lauf des Festivals auch noch: Man Trouble (USA, 1930) von Berthold Viertel war der erste, frisch vom UCLA Film & Television Archive restauriert. Noch ein Film, in dem die Musik eine grosse Rolle spielte. Die Weihnachts-romcom ist auch eine Mischung aus Musikfilm und Gangster-Noir und damit recht nah bei "Blues in the Night" von Litvak, ohne dessen Jazz-Insiderwissen, aber mit derselben Dialektik aus warmer Menschlichkeit und krimineller Härte. Der Film war seit dem Brand im Fox-Archiv 1937 praktisch verschwunden, da er nur als 35mm "nitrate workprint" überlebt hatte. Auch Freaks (USA, 1932) von Tod Browning kannte ich bisher noch nicht. Der sehr berührende Film wurde 2023 von Criterion restauriert ("from a 35mm nitrate dupe negative and the original optical audio track"). Im Modernissimo gab es dann noch eine leider schlecht besuchte (wohl, weil der Vorverkauf erst kurz davor möglich war, aber auch weil parallel auf der Piazza Kurosawas "Die Sieben Samurai" lief, auch in einer neuen 4K-Version) Spätvorstellung von Pépé le Moko (Frankreich, 1937) von Julien Duvivier mit Jean Gabin. Auch das eine wunderbare Mischung aus poetischem Realismus und hartem Noir. Die (Studio-)Casbah wird dabei mit unzähligen ungewöhnlichen Aufnahmen so kunstvoll inszeniert, dass sie zur zweiten Hauptfigur des Filmes wird.

Zu guter letzt gab es noch den Auftakt in meinen sommerlichen Heimkino-Plan: die Filme von Luca Guadagnino schauen nämlich. The Protagonists (Italien, 1999) ist sein eigenwilliges Debut, der mit einem Auftritt von Jhelisa auch als eine Art Musikfilm beginnt – und dann in andere Richtungen geht. Eine Filmcrew rekonstruiert in London ein unverständliches Verbrechen, einen "random murder" aus dem Jahr 1994, spricht dabei mit Zeitzeugen (der Witwe des Opfers, den ermittelnden Polizisten) und stellt mit Schauspieler*innen Szenen nach, deren Filmen gefilmt wird … ein Vexierspiel, das von den Bildern lebt, auf die es sich auch stark verlässt, obwohl Tilda Swinton als Erzählerin durch den Film führt, während sie im Film im Film als Darstellerin des – männlichen – Mordopfers auch selbst mitspielt. Irgendwie unrund und doch sehr interessant.

P. S.: Vor einigen der Litvak-Filme wurden Shorts mit dem Duke Ellington Orchestra gezeigt: "A Bundle of Blues" (Fred Waller, USA, 1933), "Date with Duke" (George Pal, USA, 1947), "Solitude" (Duke Goldstone, USA, 1952) und "Sophisticated Lady" (Duke Goldstone, USA, 1952), zudem "Daybreak Express" (USA, 1953), D.A. Pennebakers rasant geschnittene Hommage an New York und die "El" zu einem Ellington-Stück. Ein ganzes Ellington-Programm, bei weitere Shorts und Dudley Murphys "Black and Tan" (18', USA, 1929) gezeigt wurden, schaffte ich leider nicht. 


Cinema Lumière, Bologna (Fotos von Josef von Sternberg "Morocco" und Wim Wenders' "Paris, Texas")

8) Coda: One More Day of Dietrich

Kurz vor Festivalende kam ein E-Mail: am Montag, dem Tag, an dem in Bologna wirklich nichts los ist (alle Sehenswürdigkeiten geschlossen usw.) gebe es noch einen Dietrich-Tag. Fünf Filme aus dem Festivalprogramm wurden wiederholt in einem Saal des Cinema Lumière (dem Hauptspielort der Cineteca, deren eigentliches Gebäude am anderen Ende eines Parks liegt und als Location beim Festival keine Rolle spielt, in der neben zwei Sälen auch ein Vorlesungsraum, eine Bibliothek usw. untergebracht sind). Das war höchst willkommen, denn einerseits hatte ich – abgesehen von einem Konzert am Abend – für den Tag keine Pläne und andererseits die Dietrich-Reihe ausgelassen, mit der Überlegung, dass ich die Filme bestimmt bei anderer Gelegenheit sehen könne. Die ersten drei besuchte ich also, den fünften ("Destry Rides Again", George Marshall, USA, 1939) muss ich wegen des Konzerts eh verzichten, der vierte war "A Foreign Affair" (Billy Wilder, USA, 1948), den ich bereits kannte, also ging ich in die ersten drei, von denen ich den mittleren schon kannte – alle von Josef von Sternberg.

Den Auftakt machte Der blaue Engel (Deutschland, 1930), den ich tatsächlich noch nie gesehen hatte. Den frühen Zeitpunkt merkt man dem Film öfter mal an, manches wirkt recht steif, Joseph Jannings Darstellung des Prof. Unrat gelingt zwar das Kunststück, die Balance zwischen Tragik und Komik stets zu wahren, aber seine Mimik hätte auch ausgereicht, um seinen Part ohne gesprochenen Text verständlich zu machen. Der Lernfortschritt war rasant – oder die Produktionsbedingungen in Hollywood besser als in den UFA-Studios? – denn schon in Morocco (USA, 1930), noch aus demselben Jahr, sind wir definitiv im Tonfilm-Zeitalter angekommen. Die Dreiecksgeschichte um Dietrich, einen reichen Verehrer (Adolphe Menjou) und einen mittellosen Fremdenlegionär (Gary Cooper) lebt von seiner Optik (hinter der Kamera: Lee Garmes) ebenso wie von Dietrichs Präsenz. Sie glänzt nicht nur in der früh im Film platzierten Szene, in der sie in Frack und Zylinder bei einem Auftritt vor einer Frau stehenbleibt, sie unterm Kinn anfasst und auf den Mund küsst. Den schönsten der drei Filme fand ich aber den dazwischen vorgeführten und schon bekannten Shanghai Express (USA, 1932) – was für ein Fest an visueller Opulenz! Kostüme (Travis Banton), Sets (Hans Dreier), Kamera (Lee Garmes) – alles irre schön. Über Yellowfacing (Warner Oland, schwedisch-amerikanischer Herkunft, der immerhin tatsächlich etwas "Asiatisches" hat – ob das an mongolischen Wurzeln, wie er behauptete, oder Sami-Herkunft, wie eine andere Theorie vermutet, liegt) und eine nicht unproblematische Verquickung von Exotik und Erotik mag das nicht hinwegtäuschen. Dennoch ein grossartiger Film.

In der Dietrich-Reihe liefen sonst noch der Stummfilm "Die Frau, nach der man sich sehnt" (Kurt Bernhardt, Deutschland, 1929), Sternbergs "Blonde Venus" (USA; 1932), den ich leider noch nicht kenne (ebensowenig wie die drei anderen in den USA entstandenen gemeinsamen Filme, "The Scarlett Empress", "Dishonored" und "The Devil Is a Woman"), Wilders "Witness for the Prosecution" (USA, 1957), Welles' "Touch of Evil" (USA; 1958) und eine 34minütige Auswahl an Home-Movies (Cine-Kodak 16mm von 1931, Aufnahmen von Dietrichs Tochter Maria, Aufnahmen von Ferienreisen im Europa der Dreissiger und Aufnahmen auf Film-Sets ("Knight Without Armor" und "Destry Rides Again", " Seven Sinners" und einen Besuch bei Mae West, als diese "My Little Chickadee" filmte) – leider habe ich das nicht auch geschafft … die individuelle Programm-Gestaltung ist bei dem unglaublichen Angebot echt eine Herausforderung!


* * * * *

9) Liste der Filme

Il cinema ritrovato, XVIII edizione (22–30 giugno)

*) mit Einführung

21. Juni
Onde está Pessoa? (Leonor Areal)*

22. Juni
Apertura del Festival: Una visita al Caffè Pathé – Selezione di corti: "Première sortie d'un collégien" (Louis Gasnier, 1905); "Les Chiens policiers" (Lucien Nonguet, 1907), "Le Cake-Walk force" (1907), "La Tournée des Grands Ducs" (Léonce Perret, 1910), "Jobard est demandé en marriage" (Émile Cohl, 1911), "La Course des garçons de café" (1949, 1') (Daniele Furlati, p)*

The Amazing Dr. Clitterhouse (Anatole Litvak)*
Bona (Lino Brocka)*
En natt (Gustaf Molander)*
The Searchers (John Ford)* [introduction by Wim Wenders & Alexander Payne]

23. Juni
L’Équipage (Anatole Litvak)
Khak-e Sar Bé Mohr (The Sealed Soil) (Marva Nabili)*
Nie Wieder Liebe (Anatole Litvak)*
Nishijin no Shimai (The Sisters of Nishijin) (Kozaburo Yoshimura)
Deliverance (John Boorman)*

24. Juni
Trots (Gustaf Molander)
Tovarich (Anatole Litvak)
Festa: A Trilogy by Sarah Maldoror: Fogo, l’île de Feu; Cap-Vert, un Carnaval dans le Sahel; A Bissau, le Carnaval (Sarah Maldoror)*
Decision Before Dawn (Anatole Litvak)
Yoru no kawa (Undercurrent) (Kozaburo Yoshimura)
Chemi Bebia (My Grandmother) (Kote Mikaberidze) (music by Cleaning Women)*

25. Juni
Golden Eighties (Chantal Akerman)
City for Conquest (Anatole Litvak)*
Entezar (Waiting) (Amir Naderi)*
Camp de Thiaroye (Ousmane Sembène/Thierno Faty Sow)*
Osaka Monogatari (An Osaka Story) (Kozaburo Yoshimura)*
Man Trouble (Berthold Viertel)*

26. Juni
Vražda ing. Čerta (Murdering the Devil) (Ester Krumbachová)
The Snake Pit (Anatole Litvak)
The Past Is a Ghost Town: Place ("Antigua", UK 1918; "Venezuela", UK 1918; "Viaggio Napoli-Mogadiscio, Km 8000 circa", IT ca. 1928) (Daniele Furlati, p)*
Chikli-Kurzfilme (Albert Samama Chikli, 1904–1924) ("Pêche de thon de Sidi Daoud" (1905), "Pêche au thon Sidi Daoud" (1906), "Industrie agricole arabe" (1911), "Industrie des éponges" (1912), Albert Samama Chikli fragments et inédits (1905–1920), "Aïn-el-Ghezal. La Fille de Carthage" (1923–1924, reconstructed 2024) (Stephen Horne, p/fl/acc; Frank Bockius, d)*
Till Österland (Gustaf Molander) (Neil Brand, p)*

27. Juni
Māyā Miriga (Nirad Mohapatra)*
Nujum An-Nahar (Stars in Broad Daylight) (Ossama Mohammed)* [introduction by Mohammed]
The Protagonists (Luca Guadagnino)*
Itsuwareru Seisou (Clothes of Deception) (Kozaburo Yoshimura)*
Freaks (Tod Browning)

June 28
Mayday (May First Media [Josh Morton/Nick Doob]) / The Bus (Haskell Wexler)
The Deep Blue Sea (Anatole Litvak)
La Nouba des Femmes du Mont Chenoua (Assia Djebar)*
Blues in the Night (Anatole Litvak)
Onna no saka (A Woman’s Uphill Slope) (Kozaburo Yoshimura)
Pépé le Moko (Julien Duvivier)

June 29
Case Study: Restoring Jacques Demy's "Les Parapluies de Cherbourg" (Rosalie Varda, Léon Rousseau)
Anastasia (Anatole Litvak)
Tasio (Montxo Armendáriz)* [introduction by Armendáriz]
Sorry, Wrong Number (Anatole Litvak)
Yoru No Sugao (The Naked Face of Night) (Kozaburo Yoshimura)
Les Parapluies de Cherbourg (Jacques Demy)* [introduction by Rosalie Varda & Damien Chazelle]

30. Juni
Singin' in the Rain (Stanley Donen/Gene Kelly)*
Tokyo Nagaremono (Tokyo Drifter) (Seijun Suzuki)
Al-Leil (The Night) (Mohammad Malas)
Babylon (Damien Chazelle)* [introduction by Damien Chazelle]

1. Juli
Der blaue Engel (Josef von Sternberg)
Shanghai Express (Josef von Sternberg)
Morocco (Josef von Sternberg)

2. Juli
Tirez sur le pianiste (François Truffaut)

3. Juli
Mean Streets (Martin Scorsese)

* * * * *

(Text und Fotos: Flurin Casura)

Rouben Mamoulian (1897–1987) (Il Cinema Ritrovato 2023 - Nachtrag)


 Mamoulian kam am 8. Oktober 1897 in Tiflis zur Welt, Sohn einer kunstliebenden armenischen Familie, studierte oder arbeitete in Moskau, Paris, London, Rochester und New York, bevor er nach Hollywood ging. Dort verantwortete er zwischen 1929 und den mittleren Dreissigern eine Reihe von Filmen voller Experimente. „There’s a sense of euphoria an hypersensitivity in his filmmaking“ schreibt Ehsan Khoshbakht im Programmbuch zum diesjährigen Il Cinema Ritrovato in Bologna (von wo auch die folgenden Zitate stammen). Danach versuchte Mamoulian, sich ins Studio-Gefüge besser einzufügen – seine frühen Filme waren nicht mehr zu sehen, als der production code etabliert war: „too many sexual innuendos and lacy negligees“.

Mamoulian kostete die technischen Möglichkeiten aus, in seinen Worten: „[the] only worthwhile innovation is the one coming from artistic necessity“ – über sein Debut „Applause“ (1929) schreibt Khoshbakht:

Though some of the techniques used in the film are not exactly new, the impeccable execution and the way match cuts, split-screen and sound collage are integrated into the narrative give the film a whole new identity. The camera, unleashed like a butterfly, traverses jerkily through ghostly scenes in which the muffled sound of the early talkies reinforces the medium’s ghostliness. An astonishing debut.

In manchen Filmen arbeitet Mamoulian wie ein Maler. „Blood and Sand“ von 1941 über den Aufstieg und Fall eines Toreros ist das beste Beispiel dafür. Goya, Velázquez oder El Greco hat Mamoulian studiert und setzt ihre Kunst um, inszeniert Tableaux des Begehrens, der Verführung, des Todes, mit Hilfe seiner Kameramänner Ernest Palmer und Ray Rennahan, die für ihre Technicolor-Arbeit mit dem Oscar ausgezeichnet wurden. Mamoulian erzählte später in einem Interview (Sight & Sound Nr. 3, Sommer 1961), wie er gearbeitet hatte. U.a. habe er stets eine riesige Kiste mit Schals, Taschentüchern etc. in allen möglichen Farben dabeigehabt, um damit bei den Kostümen jederzeit Farbakzente setzen zu können. Und er hatte eine ganze Batterie von Sprühpistolen, mit denen er die Sets, die Kostüme oder sogar die Darsteller*innen im Bedarfsfall ansprühte. „The art director had made me a beautiful chapel; and he was very upset when I sprayed everything with green and grey paint. Then again, there’s a banquet, which was done entirely in black and white. There were flowers on the table and (naturally) the leaves were green. I think when they saw me painting them black, they went and told Mr Zanuck I’d gone out of my mind.“

Bei anderen Filmen hat Mamoulian wie ein Musiker gearbeitet (weniger als die Hälfte seiner Filme sind Musicals), besonders eindrücklich in „Love Me Tonight“ (1932): beeindruckten die erste Szene in einem erwachenden Studio-Paris, in der sich aus Geräuschen, deren Quelle im Bild zu sehen sind (Fenster werden geöffnet, Eingänge gewischt, Nägel in Schuhe gehämmert usw.) eine sich stetig verdichtende musique concrète entsteht. Später gibt es u.a. eine Szene, in der eine Jagdgesellschaft (zu Pferd) auf Zehenspitzen davonschleicht (mit schneller gefilmten und regulär abgespielten Aufnahmen – das Gegenteil gibt es natürlich auch – , weil Maurice Chevalier, der liebenswerte Schneider und halbfreiwillige Hochstapler, den müden Hirsch in die Jagdhütte zur Siesta gebeten hat). Der Film ist – oder wirkt – komplett durchchoreographiert, auch da, wo nicht gesungen wird oder nur wenige Personen grosse Räume bespielen.

Die Rolle von Gegenständen – nicht nur den immer wieder auftauchenden Spiegeln oder den Katzen, die immer wieder als kurze Einsprengsel, als Scharniere zwischen Szenen zu sehen sind – ist ebenfalls evident. Am beeindruckendsten sicherlich die post-koitale Szene in „Queen Christina“ (1933), in der Garbo den Raum abschreitet, in dem sie – „a case of mistaken gender (she’s in drag) turns seamlessly into mistaken identity“ – , die „bachelor queen“, gerade die Liebe entdeckt hat: gleichmässig (ein Metronom half beim Dreh) schreitet Greta Garbo das Zimmer ab, ihre Hand streicht über die Gegenstände, die darin herumstehen, sie prägt sich den Raum Detail für Detail ein.

Fetische (Beine, Lingerie), Spiegel und Schatten, Statuen und Gemälde, Maskeraden und Verschleierungen … Mamoulian machte bis 1942 weiter, doch verlor sein Schaffen an Schwung. Doch auch in den schwächeren Filmen gibt es wunderbare Momente, z.B. die authentischen russisch-orthodoxen Choräle in „We Live Again“ (und die Ausstattung ist auch hier bemerkenswert). Samuel Goldwyn hatte Mamoulian in diesem Fall engagiert, um aus seiner Protégée Anna Sten einen Star zu machen – klappte nicht wirklich, Cole Porter machte in „Anything Goes“ später Scherze darüber: „When Sam Goldwyn/Can with great conviction/Instruct Anna Sten in diction/Than Anna shows/Anything goes“.

Porter schrieb die Musik zum letzten Film, den Mamoulian 1957 machte, „Silk Stockings“, eine Film-Version des gleichnamigen Musicals von 1955 und zugleich eine Neuverfilmung von Lubitschs „Ninotschka“. Fred Astaire spielt darin einen US-Produzenten, der ein Musical mit dem russischen Komponisten Peter Illyich Boroff (ein Rachmaninoff-Verschnitt?) auf die Beine stellen will. Cyd Charisse glänzt als Ninotchka Yoschenko, die den Russen und die drei auf ihn angesetzten, ebenfalls der Dekadenz anheimgefallenen Agenten (darunter Peter Lorre) heim bringen soll.

Es sollte sein letzter Film bleiben. Schon davor, 1944, wurde er bei „Laura“ von Otto Preminger ersetzt. Das wiederholte sich 1959 bei „Porgy & Bess“ (den ich echt gerne mal sehen würde – scheint ein Ding der Unmöglichkeit?), bei „Cleopatra“ (1963 – Joseph Mankiewicz übernahm, flog dann aber vor der Post-Production ebenfalls raus, die Darryl F. Zanuck verantwortete) zog er dann selber von Dannen, als alles aus dem Ruder zu laufen schien.

Rouben Mamoulian starb am 4. Dezember 1987 in Woodland Hills, Los Angeles.


Applause (1929) ****
City Streets (1931) ****1/2
Love Me Tonight (1932) ****
Queen Christina (1933) ****1/2
We Live Again (1934) ***
Golden Boy (1939) ****
Blood and Sand (1941) ****1/2
Rings on Her Fingers (1942) ****
Silk Stockings (1957) ****

Verpasst habe ich leider „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1931), „The Song of Songs“ (1933 mit Marlene Dietrich) und „The Mark of Zorro“ (1940) sowie die knapp einstündige Dokumentation „Rouben Mamoulian – Lost and Found“ (André S. Labarthe, FR/UK, 2016). Letztere beruht wie es scheint hauptsächlich auf dem ausführlichen Interview, das Hubert Knapp mit Mamoulian 1965 in Hollywood in französischer Sprache führte (gefilmt von Labarthe). Eine ungeschnittene Version davon ist derzeit bei Youtube zu finden: