Il Cinema Ritrovato, Bologna, 24 June - 2 July 2023 - XXXVII edizione (3/3)

 

Den Einstieg ins letzte Drittel (Freitag 30.6.) machte ich dann etwas geruhsamer: die zwei Morgenslots, den ersten vom Nachmittag und dann eine lange Pause bis zur Spätvorstellung. Am Morgen ging’s in die Cinemalibero-Reihe, aus der ich doch ordentlich viel gesehen habe. Los ging es mit dem Viertelstündigen LES FEMMES PALESTINIENNES (Jocelyne Saab, FR, 1974, 16’), danach folgte der normallange LAYLA WA ZI’AB (Leila e i lupi / Leila and the Wolves) (Heiny Srour, GB/LP/FR/BE/NL/SE, 1980–1984). „Femmes“ schien mir – ähnlich wie der Film über Eldridge Cleaver – mindestens so sehr Propaganda wie Dokumentarfilm. „I have always tried to stand by and fight for what I believed in, to show and analyse a constantly changing Middle East, which fascinated me … in 1973, I made Les Femmes palestiniennes for the French channel Antenne 2. I wanted to show images of these Palestinian women fighters in Syria, which were very rare at the time. It was just before Sadat’s visit to Israel and the situation was very tense. While I was editing the film at Antenne 2, Paul Nahon, then head of foreign correspondence, grabbed me by the collar and pulled me out of the editing room. Les Femmes palestiniennes was shelved and never televised“ (so Saar 2015, aus dem Programmheft). Das erstaunt nicht weiter – und dennoch bietet der Film faszinierende Einblicke in eben die Welt der an der Waffe kämpfenden palestinensischen Frauen. Viel faszinierender, ja endlos faszinierend, fand ich dann den Film von Heiny Srour, der viel breiter die Rolle der Frau im Nahen Osten („Middle East“ in der britischen Terminologie, wo der „Near East“ den Balkan und das osmanische Reich ohne den Iran etc. bezeichnet) – „Weaving together memory, myth and archival materials, Layla Wa zi’ab is a significant point of intersection between the militant and anti-colonial cinema of the pioneers of the Tercer Cine and feminist historiography“ (Cecilia Cenciarelli im Programmheft). Ein Avantgarde-Film voller eindringlicher Bilder – in dem auch die Verachtung der Frauen durch ihr eigenes Umfeld (z.B. der Kämpferinnen im Verband mit Männern) schonungslos aufgezeigt wird. Metaphern, Rätsel, Poesie – ein Meisterwerk, das im Detail schon nicht leicht zu entschlüsseln ist, aber auch auf einer rein filmischen Ebene funktioniert und mich schwer beeindruckt hat. Der Film wurde weltweit vertrieben, aber in den meisten arabischen Ländern – erneut: wenig überraschend – zensiert.

Bevor es mit dem nächsten plättenden Film weiter ging, gab es eine Atempause mit Mamoulian: SILK STOCKINGS (Rouben Mamoulian, US, 1957) ist der letzte fertiggestellte Film, als Mamoulian längst nur noch sporadisch in Hollywood tätig war. Fred Astaire spielt darin den amerikanischen Produzenten Steve Canfield, der ein Musical mit Musik des russischen Komponisten Peter Ilyitch Boroff (Wim Sonneveld) aufführen will. Drei russische Agenten, die dafür sorgen sollten, dass dieser sich nicht darauf einlässt und in die Heimat zurückkehrt (unter ihnen Peter Lorre) sind längst der Dekadenz des (Studio-)Paris verfallen, tragen teure Anzüge, trinken Champagner, geniessen das westliche Leben. Also wird Ninotchka geschickt, um die drei an ihren Auftrag zu erinnern und alle viere in die Heimat zurückzubringen. Das ist dann natürlich die besonders bezaubernde Cyd Charisse – der Film damit einerseits eine Leinwandadaption des 1955er-Musicals wie auch ein Remake des berühmten Lubitsch-Films. Natürlich kriegen wir Mamoulians Fetische (Beine, Strümpfe, Lingerie), ein immer wieder vollkommen durchdachtes Bühnenbild, ein paar schöne Songs von Cole Porter, von denen aber nur „All of You“ – dessen Motiv instrumental schon früh im Film und auch später immer wieder auftaucht – ein echter Klassiker ist. Dazu gut choreographierte Massenszenen, etwas Zeitgeist („The Ritz Roll and Rock“) und natürlich aus heutiger Perspektive viel Kalte-Krieg-Nostalgie. Ein wunderbares Vergnügen, fand ich.

Danach das erste von zwei Meisterwerken des iranischen Regisseurs Bahram Beyzaie, von Ehsan Khoshbakht in eindringlichen Worten vorgestellt: GHARIBEH VA MEH (Bahram Beyzaie, IR, 1974). Mehr Nebel als in allen Filmen Antonionis zusammen und mehr Schlamm als bei Béla Tarr gebe es hier, so Khoshbakht. Ein mysteriöser Fremdling kommt am Ufer eines Küstendorfes an und verliebt sich in eine Frau, deren Mann ein Jahr zuvor vom Fischen nicht zurückgekehrt ist. „In this endlessly symbolic tale, ghosts of the past, narrow-minded villagers and forces beyond the control of the characters take the viewer into a dizzying labyrinth of rituals“ (Khoshbakht im Programmheft). Die ganzen Riten, Masken, Kostüme, die im Film eine so zentrale Rolle spielen, auch die „traditionelle“ Musik, all dies habe Beyzaie erfunden. Ein Film von zugleich archaischer Wucht und kafkaesker Beklemmung, ein Entgleiten in eine Traumwelt, die immer wieder bedrohliche Züge annimmt. Die Charaktere spiegeln sich gegenseitig, erzeugen sich erst richtig, bewegen sich am Übergang zu Mythen. Auch wenn der Film in einer fernen Vergangenheit spielt – und den Dörflern auch völlig uniranisches Verhalten angedichtet wird, so brüllen sie immer wieder im Chor, was als Hommage an Kurosawas Samurai-Filme zu verstehen sei – beschäftigt es sich eindeutig mit der iranischen Gegenwart, beschwört mit seiner irren und brutalen – umso brutaler wirkenden weil völlig ohne Erklärungen auskommenden – Schlussszene auch Bilder der iranischen Revolution herauf. „Gharibeh va meh, or at least some of its most essential images came right out of my nightmares. I realised the fear that was tormenting me in Iranian society was now growing even bigger within me. The critics‘ reading and interpretation of the film after is premiere at Tehran International Film Festival proved that my fears were right. Gharibeh va meh was a warning about an impending danger that peole were either oblivious to, or chose to stay ignorant of. They saw the signs of the looming threats addressed in the film but opted to attack the film and label it as ‚incomprehensible‘ and ‚anti-religious'“ (Beyzaie im Programmheft). Ganz anders die Rezeption im Westen: Beyzaie erinnert sich an einen Festivalbericht in „Sight & Sound“ oder „Films and Filming“, in dem stand, der Regisseur (der auch sein Drehbuchautor) war sei „five years ahead of his time“ – als hätte der Journalist gewusst, dass fünf Jahre später im Iran etwas geschehen würde – die rückschrittliche Revolution, zu der auch jene Kreise gehörten, die hinter dem furchtbaren Brandanschlag auf das Kino Rex im Jahr 1978 standen.

Am Nachmittag hatte ich den geplanten Besuch von „Kawanaka Jiam Kassen (Kinugasa, 1941) gestrichen, um mir eine längere Pause zu gönnen. Und am Abend war ich unschlüssig: einerseits hätte es auf der Piazza den zweiten Film mit dem Orchester des Stadttheaters unter Timothy Brock gegeben, Lubitschs „Lady Windermere’s Fan“ (1925), der dann allerdings wegen des unsicheren Theaters in den Konzertsaal, das Auditorio Manzoni, verschoben wurde (zudem gab’s eine zweite Aufführung mit Sosin am Klavier in einem der grossen Kinosäle) – doch ich entschied mich, endgültig angefixt, für QUEEN CHRISTINA (Rouben Mamoulian, US, 1933) – und kriegte die Original-Ninotschka also an dem Tag auch noch zu sehen: Greta Garbo in einer umwerfenden Rolle als burschikose „bachelor queen“, wobei der Film mit ihrer Inthronisierung als sechsjährige einsetzt und mit ihrer Abdankung und dem folgenden Gang ins Exil endet. Bei einer ihrer vorübergehenden Fluchten vom gestrengen Hof (der sie zu einer Heirat ihres Cousins Karl Gustav zu nötigen suchte) trifft sie zufällig auf den Gesandten des spanischen Hofes – die Königin als adliger Jüngling verkleidet. Doch man muss sich das Gemach teilen, aus dem falschen Geschlecht wird eine falsche Identität, die beiden verlieben sich, verbringen – eingeschneit – ein paar glückliche Tage in diesem Zimmer. Da gibt es dann auch die phänomenale Szene, in der Garbo – anscheinend durch ein Metronom angeleitet – nach Vollzug des Geschlechtsakts den Raum abschreitet, mit ihrer Hand über all die Gegenstände fährt. Was sie denn mache, fragt der Spanier (John Gilbert im vierten und letzten gemeinsamen Film). Sie präge sich diesen Ort Stück für Stück ein, um sich später an das erlebte Glück erinnern zu können. Die Königin eine Gefangene, die lieber Privates Glück erleben würde, doch die Rolle verhindert das. Die ambigue Sexualität der Garbo macht sich in diesem Film schon früh bemerkbar, in der Szene nämlich, als sie ihre liebste Hofdame auf den Mund küsst. Im Gegensatz zu ihren anderen Regisseuren der Zeit „beschenkt“ Mamoulian Garbo nicht mit ständigen Close-Ups auf ihr Gesicht. Es gibt nur drei davon, ein zweifelndes, ein fürchtendes – und am Schluss eine grossartige Szene, „one of the most profoundly moving in 1930s cinema. ‚I want your face to be a blank sheet of paper,‘ Mamoulian told Garbo. He asked her to be no more than a beautiful mask and all of a sudden, Garbo’s paraffin tears instigate real tears. In the final close-up, her face becomes a poem“ (Khoshbakht im Programmheft).

Für den Samstag (1. Juli) hatte ich fünf Plätze gebucht – und dennoch eine lange Pause drin. Um 9 Uhr ging es los mit SMOG (Franco Rossi, IT, 1962), einem sehr stylishen Film, der ersten vollständig in den USA (Los Angeles) gefilmten italienischen Produktion. Ein etwas unangenehmer Anwalt aus Rom muss einen Tag auf seinen Anschlussflug nach Mexico warten – und darf aufgrund eines Arrangements seiner Fluggesellschaft den futuristisch ins Bild gesetzten Flughafen (LAX) verlassen. Er geht zu Fuss durch den riesigen Parkplatz aka L.A., läuft den endlosen Highways entlang, entdeckt irgendwann eine Kunstgalerie, in der ein Landsmann ausstellt, kommt mit einem Helfer in der Galerie ins Gespräch, der ihn mitnimmt. So beginnt die Odyssee des Anwalts durch die Kreise der Italo-Amerikaner in L.A. (einer der Drehbuchautoren war selbst in solcher, der Film enthält Begegnungen und Ereignisse, die aus dem Erlebten der Drehbuchautoren übernommen wurden). Er trifft auf schöne Frauen, beeindruckende Villen auf den Hügeln über L.A., besucht die Ölfördergebiete, eine Bowling Bahn, eine Upper-Class-Party usw. Oberflächlichkeit, Provinzialität, Wirtschaftswunder. Dazu coole Musik von Massimo Urbani, hie und da mit Chet Baker an der Trompete und zwei Songs von Helen Merrill. Der Film öffnete zwar 1962 das Filmfestival von Venedig, geriet jedoch in Vergessenheit. Als die Titanus, die Produktionsgesellschaft, mit „Il Gattopardo“ und „Sodom and Gomorrah“ die Pleite riskierte, verkaufte sie ein Paket von Filmen an MGM, darunter auch „Smog“, der damit erst recht in Vergessenheit geriet und 2022 von der Cineteca Bologna und dem UCLA Filmarchiv in Zusammenarbeit mit Warner Bros. restauriert wurde. Sehenswert.

Da ich erst um 12 Uhr ein Stummfilmprogramm gebucht hatte, setzte ich mich noch in den Vortrag Case Study: The restoration of Man’s Castle von Rita Belda (links im Bild oben), die aufzeigte, wie sie mit den drei vorhandenen Kopien von „Man’s Castle“ die beim Festival gezeigte restaurierte Version hergestellt hat. Das war für den Laien ziemlich faszinierend, und wie so oft konnten manche Fragen (warum z.B. eine UK-Kopie, die erst in den frühen Vierzigern gezogen wurde, Szenen enthalten konnte, die beim Nachschnitt gestrichen wurden, in der Regel effektiv direkt aus dem Film geschnitten und vernichtet – 1933 verfestigte sich der Code und der Film wurde, wie so viele andere Filme wurde auch „Man’s Castle“ nachträglich umgearbeitet (gestrichten wurde ironischerweise auch eine Zeile aus dem „Hohelied“, weil das zu schlüpfrig war). Nachdem ich den Film tatsächlich grossartig fand, war es toll, dazu etwas mehr Einblicke zu kriegen (Belda hatte schon vor dem Film ein paar Minuten gesprochen).

Dann ging es weiter zum Programm „Best of 1903“, einem Stummfilprogramm mit hervorragender Klavierbegleitung durch Gabriel Thibaudeau. Es gab: CAPTAIN DEASY’S DARING DRIVE: ASCENT (DE, 5′), PLANCHE À RAINURES (FR, 1′), DESCENTE DANS LA BATTERIE (FR, 1′), AKT-SKULPTUREN (DE, 4′), VALSE EXCENTRIQUE (FR, 2′), A TROUPE OF RUSSIAN DANCERS (GB, 1′), L’OURS ET LA SENTINELLE (FR, 2′), LE GENDARME ET LES DOMESTIQUES ([Gaston Velle], FR, 2′), LE CHAUDRON INFERNAL (Georges Méliès, FR, 2′) und LE ROYAUME DE FÉES (Georges Méliès, FR, 17′), wenn mich nicht alles täuscht – „Captain Deasy’s Daring Drive: Descent“ war leider nicht zu sehen, obwohl das schon sehr spannend gewesen wäre, denn der irre Captain fährt mit einem Auto eine Bergbahnstrecke hoch und lässt sich dabei von einer auf dem hinterherfahrenden Zug montierten Kamera filmen, die ebenfalls gezeigt wird, wie auch ein paar Totalen von der Wegstrecke, in denen dann weitere Kameras zu sehen sind, deren Bilder in den Film geschnitten wurden – alles ziemlich elaboriert. Meine Vermutung: die Karre war Schrott und es gab nichts mehr, um herunterzufahren. Youtube belehrt mich aber eines Besseren, es gibt hier die Hälfte des „Descent“ zu sehen:


Gefilmt wurde das in Caux oberhalb des Léman, in der Schweiz. Das war ein sehr buntes Programm mit Slapstick (der Bär, der mit dem Wachhäuschen „tanzt“), Proto-Schulmädchenreport (die „Akt-Studien“), Surrealismus (die Diener zerteilen den Gendarmen und setzen ihn wieder zusammen) usw. Am schönsten fand ich den langen Méliès-Film am Schluss, eine typische Mischung aus Zeichentrickfilm/Animation und real gefilmten Personen inklusive Unterwasserszenen und Begegnungen mit Kulissenfischen, Reise im Walfischbauch etc. (und einem Fels, der aussieht wie der Kopf des alten Brahms, aber das habe ich mir wohl im Filmrausch nur eingebildet – die Qualität der in der Tube zu findenden Versionen des Filmes ist viel zu bescheiden, als dass sowas nachgeprüft werden könnte). Ein „weit entferntes Land“ sei das Stummfilmkino, so Mariann Lewinsky in ihrer Einführung, bei der auch die ganze Crew der Stummfilmreihen verdankt wurde – und es war wunderbar, darein eintauchen zu können, hier, mit den Filmen von 1923, ebenso wie mit einzelnen anderen Stummfilmen (Kinugasa, Chaplin, der Screentest von Mamoulian …)

Um 14 Uhr hatte ich dann den zweiten Schock mit dem Cinema-ye Motafavet (Iranian New Wave): CHERIKE-YE TARA (Bahram Beyzaie, IR, 1979). Nach dem überlangen „Stranger and the Fog“ ist die „Ballade von Tara“ konziser und in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung des feministischen Kinos des ersten Filmes (140 und 102 Minuten dauern sie). Nachdem die Figur der Rana im ersten Film zwar stets mehr zu wissen scheint als alle anderen um sie herum (was vielleicht auch wirklich stimmt, denn gegen Ende des Filmes, nachdem der Fremde sie heiraten will, wird er eines Nachts angegriffen und tötet den Angreifer, der sich als der „verschwundene“ Ehemann entpuppt, der vor seinem Verschwinden Wertsachen versteckt und vergraben hatte und diese holen kommen will, als der Fremde ihn überrascht), so ist Tara im späteren Film der unweigerliche Mittelpunkt, ihre Figur einer unbeirrbaren Witwe wird von der Debütantin Susan Taslimi beeindruckend verkörpert. Kaum hatten die Dreharbeiten begonnen, erreichte die Crew die Nachricht vom Anschlag auf das Kino Rex mit über 400 Todesopfern, ausgeführt im im Auftrag von Mitgliedern der Geistlichkeit aus Qom auf Anweisung Chomeinis. Die „Prophezeiung“ von „Gharibeh va meh“ war damit wahr geworden – doch Beyzaie setzt gleich zu einem weiteren prophetischen Film an, deren Hauptfigur die Frauen vorwegnimmt, die seit der Ermordung von Jina Mahsa Amini im September 2022 ihren Protest im Iran mit unglaublicher Stärke auf die Strasse tragen. „Bahram Beyzaie’s seamless blend of myth, symbolism, folklore and classical Persian literature in Cherike-ye Tara is unparalleled in its complexity. […] Here, as well was directing, he has also produced, written, set and constume-designed, and edited a mesmerising tale that fuses the ceremonial legends of the past with contemporary life. Tara, a strong-willed widow encounters the fleeting ghost of an ancient warrior in the forest next to her village. The ghost’s appearances become more frequent and finally he talks to her, claiming a sword that she has found among her father’s effects. Without the sword, the dead warrior can’t rest. But when the sword is restored to him, it’s his love for Tara that prevents him from returning to the land of the dead“ (Khoshbakht im Programmheft). Zum Verbot des Films im Iran führte weniger der politische Symbolgehalt als die Frauenfigur, die begehrt wird aber ihr Schicksal zugleich selbst in die Hand nimmt. Der Film lief daher nur ein einziges Mal offiziell, 1980 beim Festival in Cannes. Im Film findet eine Ta’zieh-Aufführung statt, eine Art schiitisches Passionsstück, in dem die Leiden des Imam Hossein dargestellt werden. Das ist ein Bezug, ein anderer ist einmal mehr Kurosawa: Beyzaies Film könne als „feminist take“ von dessen Filmen gelesen werden, so Khoshbakht. Tara, greift, nachdem sie die Männer in ihrem Leben verloren hat (den Ehemann und dann auch den Geist des Kriegers) selbst zum Schwert und definiert ihr Frausein neu – am Ende ficht sie mit dem Ozean, was auch eine Brücke zu „Gharibe va meh“ darstellt. Zwei unfassbar tolle Filme!

Am Nachmittag schlenderte ich dann durch die zweite Runde von „Bologna Fotografata: persone, luoghi, fotografi“ in der Sottopasso Re Enzo (einer vergessenen Strassenunterführung, direkt neben der Piazza Maggiore, in der die Cineteca grössere Ausstellungen veranstaltet, letztes Jahr gab es dort einen superbe Pasolini-Ausstellung, dieses Jahr eine zweite Schau mit Fotografien aus Bologna (von der erste hatte ich mal den Katalog gekauft, sie fand 2017 statt). Dazu gab es dort auch ein paar Räume mit sehr ansprechenden poetischen Zeichentrickfilmen von Stefano Ricci – aber angesichts all der Filme, die ich an den Tagen anschaute, mochte ich mich darauf nur punktuell einlassen.

In der ersten Abendvorstellung gab es dann ein letztes Mal Kinugasa: YOSO (Teinosuke Kinugasa, JP, 1963). Sein zweitletzter Film (und der letzte in alleiniger Regie) ist das, und den fand ich unerwartet toll, nicht bloss aus formalen Gründen. Im Breitformat und in bestechendem Schwarzweiss gedreht, spielt der Film zu weiten Teilen im Palast der Kaiserin Koken (718-770 – gleiche Epoche also wie „Daibutsu kaigen“), die unter Schmerzen leidet, die die hohe Geistlichkeit nicht wegbeten kann. Zwischen 758 und 764 hatte Koken abgedankt und wurde in dieser Zeit, wie es heisst, von einem „miracle-worker monk“ namens Dokyo geheilt – und es hielten sich Gerüchte über eine romantische Beziehung der beiden. Davon – aber am Hof, ohne dass die Kaiserin abdanken würde – handelt der Film, Dosyo wird protegiert, erhält immer mehr Macht am Hof, was wiederum Intrigen heraufbeschwört, erst recht, da er sich als sozial ausgibt, der Kaiserin der Kaiserin von der Armut der Menschen in ihrem Reich erzählt. Die jüngeren niedrigen Beamten sympathisiern mit dem Eindringling, die Minister wollen ihn ermordern. Der geometrisch klar angelegte Palast, die ständig durch vertikale Linien – eine Art Zäune – getrennten Innen- und Aussenräume erlauben wahnsinnig dichte, komplett durchgestaltete Bilder, auch die Möbel am Set fügen sich ein in diese Vertikale – die eben stets in epische Breitformat eingepasst ist. Bestes Kino auf jeden Fall, ein Film, der allein mit seinen Bildern die Geschichte erzählt hätte, auch wenn es keine erklärenden Untertitel gegeben hätte. Nachdem ich von Kinugasa bis dahin nur die Stummfilme richtig toll gefunden hatte, eine eher unerwartete Versöhnung zum Abschluss.

Vor der letzten Runde machte ich einen Spaziergang u.a. zum Geburtshaus von Pier Paolo Pasolini, an dem ich jedes Mal in Bologna vorbeispaziere – es liegt auch gut, wenn man zum Komplex der „sette chiese“ will, einem der bezauberndsten Orte in der Stadt. WE LIVE AGAIN (Rouben Mamoulian, US, 1934) machte den Ausklang – netterweise kein Regen an dem Abend, sonst wäre die Vorstellung (wie die von „Peter“ ein paar Tage zuvor gestrichen worden zu Gunsten von der restaurierten Version von Bertoluccis „The Dreamers“, der auf der Piazza gezeigt wurde. Den Film fand ich dann allerdings als einzigen aus der Mamoulian-Reihe etwas enttäuschend (vgl. Mamoulian-Post). Im Rückblick hätte ich wohl besser versucht, doch noch in einen der Special Events reinzukommen, die zeitgleiche Vorführung von Joe Dantes „Gremlins“ mit Einführung von Dante selbst (für die ganzen Special Events, bei denen auch „All the Beauty and the Bloodshed“ von Laura Poitras mit Anwesenheit von Nan Goldin dabei war, waren die im Voraus reservierbaren Plätze schon weg, als ich bemerkt hatte, dass man buchen konnte).

Der letzte Tag, Sonntag (2. Juli) ist jeweils entspannter: ein grosser Teil der Festivalbesucher*innen ist abgereist und es gibt nur in einem der grossen Kinos Vorstellungen (das mit dem besten Blick auf die Leinwand aber leider auch das mit der schlechtesten Lüftung), dem Arlecchino (mein Lieblingssaal ist das Jolly, dort wird es v.a. bei unterhalb der Leinwand projizierten Untertiteln allerdings manchmal selbst für grosse Leute wie mich schwierig, alles sehen zu können). Die morgendlichen Vorstellungen liess ich aus, weil ich noch ins MAMbo wollte, das Museum für Moderne Kunst, das im gleichen ehemaligen Industrieareal liegt wie das Cinema Lumiere der Cineteca. Es gab dort aber ausgerechnet auch wieder eine Film-Ausstellung, „Yvonne Rainer: Words, Dances, Films“, bei der u.a. vollständige Spielfilme liefen, aber auch diverse kurze Experimentalfilme der 1934 geborenen Tänzerin, Choreographin und Filmemacherin, die sich u.a. an der Martha Graham School ausbilden liess (siehe oben „The Flute of Krishna“ von Mamoulian). Das war entsprechend eine Ausstellung, in der man einen halben Tag hätte verbringen können (das Ticket hätte auch einen zweiten Einlass gestattet – gute Idee, die ich hierzulande noch in keinem Museum jemals sah!), aber klar: das beisst sich mit dem Besuch des Filmfetivals. In den Sammlungsräumen gab es eine kleine Schau von Muna Mussie, „Muna Mussie. Bologna St. 173, Un Viaggio a Ritroso. Congressi et Festival Eritrei a Bologna“, mit Kunstgegenständen, Fotos, Plakaten, Flyern und Dokumenten rund um die im Titel erwähnten Veranstaltungen. Durch die mir bekannte Sammlung bin ich nur durchgeschlendert, aber den Teil des Museums, der den Werken von Giorgio Morandi gewidmet ist, besuche ich auch stets gerne (bis 2012 war das Morandi-Museum im Palazzo d’Accursio untergebracht, wo auch Teile der Stadtverwaltung residieren, nach dem Erdbeben wurde es ins MAMbo verlegt).

Auch ohne die beiden vormittäglichen Vorstellungen („Macario“ von Robert Gavaldon, 1960 und „Rysopis“ von Jerzy Skolimowski, 1964) gab es noch ein doppeltes Double Feature, also vier Filme als Endspurt, aufs Open Air auf der Piazza verzichtete ich danach („The Straight Story“ von Lynch, 1999, auch davon lief eine restaurierte Version, der jüngste restaurierte Film war Lynchs „Inland Empire“ von 2006, andere aus den letzten Jahren umfassten „The Pianist“ von Polanski, 2002, und „Il dono“ von Michelangelo Frammartino von 2003).

Los ging es um 14:15 Uhr mit ONE WAY PASSAGE (Tay Garnett, US, 1932), einer bittersüssen Liebeskomödie, die noch einmal die Möglichkeiten des Pre-Code-Hollywood-Films aufzeigte. William Powell spielt einen zum Tod Verurteilten, der sich vom ihn überführenden Polizisten für die Überfahrt von Hong Kong nach Kalifornien ausbedingt, dass er die drei oder vier Wochen auf dem Schiff ohne Handschellen reisen darf. Er lernt eine todkranke Frau kennen (Kay Francis), die beiden verlieben sich, entwickeln ein Ritual, um die Flüchtigkeit des glücklichen Moments zu zelebrieren: nach einem gemeinsamen Drink zerschlagen sie jeweils ihre Gläser. Beim Zwischenhalt auf Hawaii hätte die Figur von Powell die Möglichkeit, zu entkommen – er ist immerhin unterwegs in die Death Row – doch die Liebe siegt, der Brief, den er ihr hinterlegt hatte, verschwindet wieder in seiner Innentasche. Auf dem Schiff treiben sich weitere Betrüger und Hochstaplerinnen herum, man kennt sich (ausser die Figur von Kay Francis, die damit nichts zu tun hat), es kommt zu zahlreichen komischen Szenen, doch was bleibt ist die mit feinem Strich skizzierte, zerbrechlich-zarte und sehr berührende Liebesgeschichte. Die Schlusseinstellung: zwei Gläser werden im Close-Up auf einem Tresen zerbrochen – die beiden Liebenden weilen nicht mehr unter uns. Eine Träne, klar.

An zweiter Stelle (dazwischen immer ein Gang um den Block, um den QR-Code auf dem Festivalpass wieder scannen und sich den reservierten Sitz mitteilen zu lassen – letztes Jahre konnte man zwischen den Vorstellungen noch drin bleiben, den Platz kriegt man bei Online-Buchung auch stets 75 Minuten vor Beginn er E-Mail mitgeteilt, quasi als Einzelkarte, mit der man ohne den Pass auch reinkommen würde) folgte der letzte Film von Mamoulian LOVE ME TONIGHT (Rouben Mamoulian, US, 1932). Und das war noch einmal ein grosses, vollständig durchchoreographiertes Vergnügen, über das ich im Mamoulian-Post auch schon ein paar Zeilen geschrieben habe. Lustig, dass ich direkt nach William Powell die bezaubernde Myrna Loy sah, die hier eine „man-hungry“ Gräfin spielt. Im Film darauf hätte dann eigentlich gerechterweise Asta auftreten sollen – aber das war leider nicht der Fall.

Als nächste hatte ich „Il Ferroviere“ (Pietro Germi, IT, 1956) erwartet, doch es folgte der Film, der dem diesjährigen Festival sein Gesicht verlieh und der bei einer wegen Regen abgesagten Vorstellung ausgefallen war (er lief inzwischen – nach dem Festival – auch noch selbst auf der Piazza, falls es nicht wieder geregnet hat): QUIÉN SABE (Damiano Damiani, IT, 1966). Ich kam also doch noch in den Genuss des bad-ass Southern, in dem eine Gruppe mexikanischer Banditen um El Chuncho (Gian Maria Volonté) einen Banditen, der allmählich zum Revolutionär wird – und sich von einem suaven Yankee (Lou Castel) als Lockvogel für die Ermordung eines Generals der Revolutionstruppen ausnutzen lässt. Zum Trupp von El Churro gehören auch die schöne Adelita (Martine Bewsick) und sein Bruder, der es mit der Religion hat (Klaus Kinski in einer Paraderolle). Das machte natürlich grossen Spass und war auch insofern interessant, als die Figuren stets etwas undurchsichtig bleiben – so bringt El Churro am Ende – als alle anderen tot oder aus dem Film gefallen sind – den Yankee um, ohne dass er sagen kann, weswegen er das tut. Er weiss allerdings, dass er es tun muss. Luis Bacalov hat einen passenden Soundtrack geschrieben und es gibt viele tolle Bilder aus kargen Landschaften um Alméria (der Plan, tatsächlich in Mexico zu drehen, erwies sich als nicht umsetzbar). Gesprochen wird eine wilde Mischung aus Italienisch, Spanisch und manchmal Englisch.

Zum Abschluss gab es dann eine restaurierte, 72minütige Version von FEAR AND DESIRE (Stanley Kubrick, US, 1953) – ein existentielles Kammerspiel um vier Soldaten, die hinter den feindlichen Linien abgestürzt sind und sich wieder auf ihre Seite durchschlagen wollen. Sie bauen ein Floss, werden von einer Einheimischen entdeckt, die sie gefangen nehmen und später eher versehentlich töten, entdecken dann einen Aussenposten des Gegners – und auch wenn das wohl im Koreakrieg spielen sollte, sehen die Gegner genau so aus, wie „unsere“ Soldaten. Der Clou: zwei der Darsteller des Vierertrupps spielen auch den feindlichen General und seinen Offizier – sie töten sich damit dann quasi – im raffinierten Gegenschnitt – selbst. Ein Antikriegsfilm, der gerade deshalb so eindringlich ist, weil er überall und nirgends spielt. Beim Wiki-Eintrag ist die übliche einstündige Version des von Kubrick am Ende zurückgehaltenen Filmes zu finden, ebenso die Sätze, mit denen der Film aus dem Off beginnt: „There is a war in this forest. Not a war that has been fought, nor one that will be, but any war. And the enemies who struggle here do not exist unless we call them into being. This forest then, and all that happens now is outside history. Only the unchanging shapes of fear and doubt and death are from our world. These soldiers that you see keep our language and our time, but have no other country but the mind.“ Die in Bologna gezeigte Version tauchte vor kurzem in der Library of Congress auf, sie lief 1952 unter dem Titel „Shape of Fear“ beim Festival in Venedig und kam dann in die Kinos, bis Kubrick dem Film 1953 zurückzog. Sie wurde von der LoC zusammen mit Kino Lorber, die 2012 die einstündige Fassung erneut herausgebracht hatten, restauriert.


Und dann ging’s wieder heim … mit im Gepäck nicht nur der Festival-Katalog sondern auch der Band über Albert Samama Chikli – ein dickes, sehr schön gestaltetes Buch, das freundlicherweise (im Gegensatz zu den meisten Publikationen der Cineteca, mal von den Festivalprogrammen abgesehen) vollständig zweisprachig (it/en) herausgebracht wurde. Eine kleine Broschüre war geplant, als erstes Produkt der Aufarbeitung des Chickli-Archivs, doch daraus wurde dieser prächtige, reich bebilderte Band.

Ich hätte wirklich gar nichts dagegen, wenn sich der Besuch des Festivals als jährliche Tradition etablieren würde …

Die Veranstaltungen („Cinema Lessons“), Referate über Restaurationen („Case Studies“) und mehr werden jeweils auch aufgezeichnet, hier findet man die Liste der Veranstaltungen von 2022 (und ganz unten auch die Links zum Katalog und dem Programm):
https://festival.ilcinemaritrovato.it/en/archivio/2022/

Ansteuern kann man das Archiv über die „Film Database“ oben im Menu. So sollten das alle Festivals und Veranstalter mit den Infos zu vergangenen Veranstaltungen handhaben!

Finis

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Ein PS noch: neben den Special Events habe ich leider vollständig verpasst: die „Powell Before Pressburger“-Reihe, die dt. Exilkomödien von 1934-36, die russischen Diven in Italien, die kleine Elfi Mikesch-Reihe, die Lindtberg-Reihe (da der Anlass dazu das 100. der Präsensfilm 2024 ist, rechne ich mit eine Retro in Zürich, die ich dann verpassen werde, weil ich nie Zeit habe) und die Reihe mit Filmen von Anna Magnani (bei italienischen Filmen kann es wohl ganz selten vorkommen, dass es keine Untertitel – auch keine digital eingeblendeten – gibt, die Angaben im Voraus sind nicht immer komplett, aber in der Regel gibt es *mehr* Untertitel als im Voraus angegeben). Und einige Meisterwerke von Renoir, Lubitsch, Hitchcock usw. in der Reihe „Restored and Recovered“. Aber bei dem irren Angebot geht das halt nicht anders und ich habe mich im Zweifelsfall stets für die Rarität entschieden, davon ausgehend, dass z.B. die Filme von Magnani immer mal wieder gezeigt werden.

Ein paar Sachen verpasst zu haben bedaure ich aber wirklich, so „Ciné-Guerillas: Scenes from the Labudovic Reels“, Sembènes „Ceddo“ und „Concerto pour un exil“ (Derié Ecaré, Elfenbeinküste/FR, 1968 – der lief beim anderen Screening von „Bushman“ als Vorfilm) und „Al-Makhdu’un“ (Tewfik Saleh, Syrien, 1972) in der Cinemalibero-Reihe, zudem einige restaurierte Filme, besonders „Ishanou“ (Aribam Syam Sharma, Indien, 1990 – der oder die Kurzfilme von Joyce Wieland).

Egal. Was für ein Glück, dieses Festival! Es ist wie geschaffen für mich.

(zu Teil 2 / zum Post zu Rouben Mamoulian)

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